Warum das Alles?

Du hast soeben ein Stück Papier in die Hand gedrückt bekommen oder es aus deinem Briefkasten geholt oder bist auf irgendeinem anderen Weg auf die „Fernweh“ gestoßen. Um es gleich vorwegzunehmen: Dies ist keine Werbung, weder die Werbung eines Konzerns, der seine neusten Angebote preis gibt, noch die Werbung einer politischen oder religiösen Sekte, die dich überzeugen will einer ihrer Jünger zu werden und auch bestimmt keine Spendenaufforderung einer wohltätigen Organisation, die an dein schlechtes Gewissen appelliert. Die Leute, die diese anarchistische Zeitung auf der Straße verteilen, tun es nicht für Geld, Lob des Gruppenkaders oder göttlichen Segen und auch sicherlich nicht um irgendeiner Sache, einem Kollektiv, einem erfundenen Spuk oder einem Ideal zu dienen, sondern schlichtweg aus eigenem Antrieb. Aber was soll das für ein eigener Antrieb sein, der einen dazu veranlasst all diese Texte zu schreiben und Tausende Kopien dieser in der Stadt zu verbreiten?

Schlichtweg der Drang zu kommunizieren, der Wille eigene und gemeinsame Ideen in den Raum zu werfen, dieser Normalität eine schallende Kritik an den Kopf zu schmeißen und von Kämpfen und Momenten der Rebellion zu erzählen, zu schwärmen und zu motivieren, sich ebenso in die unberechenbaren Wogen der Revolte zu stürzen. Eine Revolte, deren feuriger Antrieb eben dieses gewisse Fernweh ist, dieses unbeschreibliche Verlangen nach etwas, das wir im hier und jetzt nicht finden können, eine unbändige Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach unvorhergesehenen Sphären einer Welt, in der sich niemand den Zwängen und Befehlen anderer zu fügen hat und jedem die Möglichkeit offen steht, sich frei zu entfalten und die Umstände, die sein Leben umgeben, selbst zu gestalten. Für jeden derer, der Teil dieses wild zusammengewürfelten Haufens ist, der von Zeit zu Zeit eine Ausgabe der „Fernweh“ herausgibt, ist dieses Fernweh sicherlich etwas anderes. Schließlich ist es keine Sehnsucht nach etwas konkretem und vielleicht wissen wir auch gar nicht so genau nach was, da wir die Momente der Freiheit nur allzu selten kosten, die uns ermöglichen einen Hauch einer Ahnung davon zu haben, was es heißt ununterworfen und selbstbestimmt denken und handeln zu können. Doch trotz dieser Unterschiede und Hürden, die sich offensichtlich auftun, wenn man nicht nur einfach ein Programm, eine Lösung oder ein anderes warenförmiges Angebot anzubieten hat, und darüber hinaus noch seine ganz eigene Art und Weise Gedanken, Reflektionen und Vorschläge aufs Papier zu bringen, gehen wir von einigen gemeinsamen Überzeugungen aus: Die heutigen Zustände heißen für uns nichts anderes, als die Versklavung und Unterdrückung der breiten Masse. Eine Versklavung, die zwar wesentlich moderner und somit subtiler, geschickter und versteckter als zu Tagen des Pyramidenbaus im alten Ägypten zum Vorschein tritt, doch im wesentlichen nichts anderes bedeutet: Eine maximale Ausbeutung der Sklaven zum Profit ihrer Herren und der mit Gewalt durchgesetzte Zwang sich diesem hierarchischen Verhältnis zu fügen. Da wir also gegen diese Realität sowie gegen jede andere Beziehung sind, die eine Ausprägung der Herrschaft bedeutet, sind wir Anarchisten. Diese generelle Ablehnung der bestehenden sozialen Ordnung veranlasst uns zur Revolte gegen Autoritäten anzustacheln und unsere Ideen zu kommunizieren, wie eine unabhängige Selbstorganisation zum Kampf und Angriff auf diese unzähligen Gesichter der Herrschaft aussehen könnte. Deswegen geben wir unseren Senf zu aktuellen und historischen, lokalen und internationalen, konkreten und abstrakten Entwicklungen ab, um dieses Feld nicht vollkommen den Herrschenden und ihren Handlangern zu überlassen und so auf Ereignisse, Bewegungen, Spannungen und Initiativen hinzuweisen, die uns Freude bereiten. Deswegen machen wir unserer Wut Luft und versuchen mit Witz und Fantasie rebellische Gedanken und Taten anderer zu provozieren. Deswegen versuchen wir das Terrain, auf dem wir uns bewegen, zu untersuchen und zu analysieren, um auf empfindliche Schwachstellen unserer Feinde zu stoßen und so Möglichkeiten erahnen zu können, wie Momente des Aufstands entflammen können. Deshalb versuchen wir immerzu die Momente hervorzuheben, die stets vertuscht und versteckt werden, und doch unmissverständlich eines klar zustellen: Unzählige Individuen geben sich nicht damit zufrieden ein Leben lang Sklave anderer zu sein und treten in Konflikt mit denen, die sie erniedrigen und entwürdigen.

All das ist leichter gesagt als getan und allzu oft lassen wir uns von der Mentalität packen, die davon ausgeht, dass unsere Zukunft ohnehin in Stein gemeißelt ist. Das Gespenst der Resignation scheint all zu oft alle fest im Griff zu haben und genau das ist die Perspektive auf den Stand der Dinge, den uns die Herrschaft vermitteln will. All diese geschwollenen Wörter sind ohnehin längst ihrer Bedeutung beraubt und Phrasen, die mit all diesen pompösen Wörtern wie „Freiheit“ und „Aufstand“ gespickt sind, kann ohnehin jeder – vom Werbemakler bis zum Parteiführer – in den Mund nehmen, ohne wirklich etwas aussagen zu müssen. Es geht schlicht um das Image, um das Spektakel, um das leichte Kribbeln im Nacken, das sie noch manchmal fähig sind zu erzeugen. Was „Freiheit“ bedeutet, welcher Zustand es eigentlich wert ist „Leben“ genannt zu werden oder was ein „Aufstand“ überhaupt ist, dafür ist kein Platz in den hohlen Phrasen all derer, die nur ein Abbild ihrer eigenen Ohnmacht sind und auch nicht ernsthaft versuchen, etwas anderes zu sein. Aber wen wundert es schon, dass wir scheinbar unfähig sind gemeinsam zu kommunizieren, also eigene Ideen, Träume und Pläne auszutauschen, wenn wir schlichtweg einer gemeinsamen Sprache beraubt sind? Mit Sprache meine ich eine Art und Weise sich auszudrücken, sich zu verstehen und somit einen Weg zu finden, sein Gegenüber nach zu vollziehen. Durch den Verlust von gemeinsamen Lebensrealitäten, von Begegnungen, gemeinsamer Intensität und Auseinandersetzung verbleibt nur einen Kloß in unserem Hälsen, der uns unfähig macht uns mitzuteilen. Dies ist wohl genauso wenig überraschend wie unser Unvermögen Entwicklungen und Prozesse auf den Straßen der Stadt und in Teilen der Gesellschaft zu bemerken, wenn wir schlicht nichts mit der Stadt und der Gesellschaft zu teilen scheinen, da unser Leben isoliert, einsam und windstill ist und sich oft nur noch auf digitalen Ebenen abspielt. Das einzige was verbleibt, ist das Wissen, dass diese Welt nicht die unsere ist.

 

So kann sich aus diesem eigenartigen Gefühl des Fernwehs allzu schnell eine Distanz zu Menschen ergeben, mit denen wir dieses Gefühl eigentlich in eine kämpferische Spannung im hier und jetzt verwandeln könnten. Anstatt unserem tagtäglichen Joch ins Auge zu blicken, werden wir von unserer Sehnsucht entführt. Sie lässt uns uns von Momenten träumen, in denen alles anders wird, in denen wir unbeschwert und zwanglos unser Leben gestalten oder auch von Krawallen und Revolutionen in weit entfernten Ländern, die ganz unseren Vorstellungen gerecht werden. Diese Sehnsucht verleitet uns dazu zu Wartenden zu werden. Zu Wartenden auf den Moment in dem wir dorthin reisen, um all das zu erleben und zu erfahren, was wir hier verpassen. Denn was scheint unwahrscheinlicher als diese Träume hier verwirklichen zu können? Auf diesen Straßen, deren einziger Kitt die Frustration zu sein scheint, in München, der Hauptstadt des Spießbürgertums, in der die Macht der Polizei so uneingeschränkt zu walten scheint, wie an keinem anderen Ort des Globus?

Aber ist nicht genau das die Illusion, der wir uns hingeben sollen um weiterhin kleine, scheue, arbeitstüchtige Sklaven zu bleiben?

Und ist es nicht genau diese Illusion, die verhindert, dass wir uns hier und jetzt in den Fragen, in den Gedankengängen und Handlungen anderer wiedererkennen um Verbindungen zu schlagen?

Verbindungen, die uns zu Individuen als Teil dieser Welt machen, die uns ermöglichen auf Banalitäten, Gleichgültigkeit und Beliebigkeit aufbauenden Beziehungen hinter uns zu lassen und Weggefährten zu finden, mit denen wir nicht nur einen gemeinsamen Weg finden, sondern auch eine gemeinsame Gefahr kreieren. Eine Gefahr für all die Formen und Ausprägungen der Herrschaft, die sich direkt um uns herum anhäufen und zu denen wir nur lernen müssen Verbindungen zu schlagen um zu sehen, dass ihre Herrschaft auf unserer Gleichgültigkeit basiert. Die Macht vom hohen Ross zu hohlen heißt sich ein Verständnis für unsere Umgebung anzueignen und sie so lokalisieren zu können, sich selbst und anderen Rebellen zu vertrauen und vor allem zuzutrauen, dass wir alle fähig sind zu einer solchen Gefahr zu werden. So können wir Worten Bedeutung einhauchen, wenn wir sie mit Erfahrung, mit Erlebtem, mit konkreten Zusammenhängen verbinden. Denn unser Ziel unterscheidet sich nicht von unseren Mitteln der Revolte: Wenn wir uns mit keinem Placebo, mit keiner Zukunftsversprechung, mit keinem Aufschub oder Zugeständnis zufrieden geben, dann leben wir das Unmittelbar, das Maßlose. Und zwar, jetzt, hier und heute. So klein und zaghaft diese Schritte auch sein mögen, es liegt an dem unberechenbaren und unablässigen Willen dies immer und immer wieder aufs neue zu versuchen. Und nach unzähligen Versuchen ist man plötzlich fähig einen Fuß vor den anderen zu setzen, fähig zu gehen, zu laufen und so hoch zu springen um die Luft atmen zu können, die nach etwas unbeschreiblichen duftet, nach etwas Unbekanntem, das wir im hier und jetzt nicht finden können, nach etwas Ungewissem, das Worte nicht erfassen können…