Briefe ins Nichts

Wir leben ein Leben, das uns von Anfang an zum Tode verurteilt. Wir werden geboren mit der Gewissheit von unserem Ende. Und dieses Leben,was uns so viel abverlangt, was uns soviel Last auf unsere Schultern lädt, sich unseren freien Entscheidungen und Handlungen entgegenstellt, kann manche von uns die Notbremse frühzeitig ziehen lassen. Wenn keine Kraft und Lust mehr aufzubringen, ist die Wege, die uns vorgeschrieben werden, bis zum Ende weiter zu beschreiten.

Die Kraftlosigkeit, der Ekel und die Erschöpfung vor dem Sein ist etwas was auch außergesellschaftlichen Ursprungs sein kann, jedoch will ich sagen, dass die individuellen Umstände, die den/die Einzeln_e zum Suizid treiben, meist gesellschaftlichen Verhältnissen entspringen.

Die Abwesenheit von Emotionen und Empfindungen scheint doch eine ziemlich legitime Reaktion auf unsere Umwelt, die unsere Wahrnehmungen in ein tiefes Grau tränkt. Gebunden an all die Zwänge, das Geld, die Effizienz, die Ausbeutung, welche uns von Orten, Menschen und Erfahrungen fern halten, nach denen wir uns so sehnen, die uns auf schon platt getrampelten Wegen lang trotten lassen, anstatt uns unsere eigenen Entdeckungen, Verirrungen und Orientierungen machen zu lassen. Eine Welt, in der unsere Wege uns durch ein Meer von Beton und Asphalt schleusen, in der unsere Sinne gefoltert werden, in der wir die Zeit nicht unser Eigen nennen können. Wo der Wecker uns jeden Morgen aus verheißenden Träumen weckt, wir in überfüllten Transportmitteln von A nach B gekarrt werden, jeden Abend voller Erschöpfung ins Bett fallen und das Geld auf dem Konto trotzdem all zu oft nicht für die Miete reicht. Ein ständiger Kampf zwischen Überleben und sich behaupten, wo die Frage nach dem Sinn zu beantworten nicht möglich scheint. Wo die Lust am Leben der Unlust am bloßen Überleben weichen kann. Allein in Deutschland begehen ca. 10 000 Menschen jährlich Suizid und Depressionen und Burn-out scheinen die Erkrankungen des 21. Jahrhunderts zu sein. Lässt das uns nicht verstehen, dass nicht wir die Verrückten sind, sondern die Bedingungen in denen wir leben?

Unsere Unfreiheit und die Fremdbestimmung unserer Leben ist so allumfassend, dass sogar unser Tod, unser Ende, nicht in unseren eigenen Händen liegen darf. Suizidäre werden als Deserteure, Fahnenflüchtige geahndet, Repressionen moralischer und gesellschaftlicher Art folgen. Als scheinen wir gezwungen uns irgendeiner Pflicht zu leben beugen zu müssen, wenn wir nun schon mal da sind. Wie können wir denn von einem müden, erschöpften und ausgezehrten Menschen erwarten Freude und Lebenshunger zu entdecken, wo die Alternativen nur irgendwelche Medikamente oder Resozialiserungsmaßnahmen scheinen, für ein Leben das nicht das Unsere ist?

Menschliches Elend, die schmerzhaften Prozesse des Aufeinandertreffens und des Auseinandergehens, Neues wagen, uns verändern oder Entscheidungen treffen all das sind Zeiten der Verwundbarkeit; wir können uns verwirrt, überwältigt, eingeschüchtert, geschwächt oder einsam fühlen. Ganz besonders dann, wenn uns eingeredet wird, die eigenen Gefühle, Reaktionen und Beweggründe nicht selbst ergründen zu können, dass die eigene Urteilskraft unzuverlässig sei und unsere psychischen Prozesse falsch und wir nur durch die Hilfe von ExpertInnen Hoffnung auf Besserung hätten. Durch die Einteilung in Kategorien wie „Normalität“ und „Anomalie“, kann die Angst davor „krank“ zu sein, nicht „normal“ zu sein, zu einem paranoiden Verfolgungswahn werden. Eine Angst davor, sein soziales Umfeld zu verlieren, als jemand Belastendes gesehen zu werden oder schlichtweg irgendwohin weggesperrt zu werden. Die Qualen, die “psychisch Kranke“ empfinden wie z.B. Entfremdung, Einsamkeit und Isolation, sind die zerstörerischen Folgen einer Gesellschaft, die unsere Individualität ersticken möchte. Der Glaube, dass es etwas “Falsches” gibt, das “korrigiert” (oder zumindest unterdrückt) werden muss, kann nur dazu führen, dass sich Menschen von sich selbst entfremden und sich elend und wertlos fühlen. Psychische Erkrankungen und ihre diagnostische Einteilung sind jedoch eine gesellschaftliche Konstruktion, die Grenze zwischen Normbereich („Normalität“) und Abweichung („psychische Erkrankung“) ist eine teils willkürliche, auf Konventionen beruhende Zuschreibung. So wie ständig neue Gesetze hinzugefügt werden, um das Korsett der Legalität immer enger zu schnüren, werden immer wieder neue psychische Störungen “entdeckt”, um neue Kategorien von “Wahnsinnigen” zu schaffen, neue Märkte für die Pharmaindustrie zu erschließen und die Menschen in ein immer kleineres Spektrum von “Gesundheit” zu zwingen. Wie eng diese beiden Sachen, die repressive, polizeiliche Gestaltung der äußeren, physischen Welt und die der inneren, psychischen, miteinander verknüpft sind , lässt sich auch beim neuen Polizeiaufgabengesetzes sehen, in dessen Zuge auch das „Bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz“ erlassen wurde, was vorsieht, dass jeder x-beliebige Bulle jemanden in eine Psychiatrie wegsperren kann, wenn der/diejenige zu laut aufmuckt oder nicht ins Bild passt. Die Psychiatrie ist ein Repressionsorgan, ausgestattet mit staatlichen und polizeilichen Machtmitteln, mit Schloss und Riegel, Psychopharmaka und Folterinstrumenten. Sie verkörpert eine bestimmte Vorstellung, nämlich die Annahme, das Individuum sei Träger einer unsichtbaren Krankheit oder erblichen Belastung, die von ExpertInnen aufgespürt und unter Anwendung von Zwang „geheilt“ werden kann. Die Psychiatrie wird zum Mittel sozialer Kontrolle und staatlicher Macht, mit Befugnissen, die das Individuum mit seinem eigenen Willen und Verlangen negieren. Am Beispiel der Ketzer, Hexen, Prostituierten, „Verrückten“ und im Grunde genommen aller “sozial Abweichenden”, die von der Inquisition “behandelt” (gefoltert, exorziert, verbrannt) wurden, lässt sich gut zeigen, wie der Mythos der “psychischen Erkrankung” vom System zur Repression genutzt wurde. Es wurde behauptet, dass diese von bösen Dämonen besessen seien, die es galt auszutreiben und zu beseitigen, mit jeglichen Zwangsmitteln. Und als die Kirche anfing, ihre Macht zu verlieren, wechselten einige der Hexenjäger einfach zur Psychiatrie, um weiterhin im Grunde genommen den gleichen Job zu machen, sich über die „Besessenen“ zu stellen und zu versuchen, sie an die gesellschaftlichen Standards anzupassen. Diese Standards verändern sich mit Zeit zu Raum.

Hinter den Vorstellungen von psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit steckt eine gigantische Industrie, ein totales Überwachungssystem mit geschlossenen Abteilungen und entsprechenden Hilfsmitteln, Sicherheitspersonal und technischen Vorrichtungen, Herstellerfirmen von Gerätschaften für Fixierung, Überwachung und Elektroschocks und natürlich die Pharmaindustrie selbst.

Wie sollen wir uns erholen, „gesund“ werden in einer Welt, die krank ist, in Institutionen, die uns festhalten, Medikamente gegen unseren Willen einflößen und den eigenen Willen negieren? Wir können nicht erwarten, Freude und Ganzheit zu finden, ohne unsere Umwelt zu verändern, ohne diese so triste Realität selbst zu verändern. Jede wirkliche, tiefgreifende Veränderung bedeutet also notwendigerweise eine Veränderung der Gesellschaft als Ganzes. Diese Gesellschaft, in der wir nur wählen dürfen zwischen Durchhalten und Zusammenbrechen, muss sterben, damit wir leben können. Damit wir uns im Wahnsinn des Seins an die Hand nehmen können, ohne Zwang und Druck.