Münchner G’schichten: Tausend Gründe für die Revolte

Das argentinische Generalkonsulat in München – dahin will Hermann F. am 23. Juni 1978 reisen. In Gestalt eines Postboten hat er vor dort eine “Sendung” abzugeben, nämlich eine geringe Menge Sprengstoff. Während die durch einen Putsch an die Macht gekommene argentinische Diktatur schon bald 20.000 Menschenleben gekostet hat, machen deutsche Atomkraft- und Rüstungskonzerne fleißig Geschäfte mit Argentinien. Die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien steht im gleichen Sommer vor der Tür und damit sollen die blutigen Massaker an Regierungskritiker_innen und -feinden vergessen werden, denn dieser spektakuläre Großevent soll versöhnen und über die Verfolgung des argentinischen Widerstand hinwegtäuschen.

“Es geht nicht um Bewunderung ferner Befreiungsbewegungen, sondern um die Erkenntnis, dass der Angriff auf Institutionen ausländischer Terrorregimes Teil unseres eigenen Befreiungskampfes ist.” – (Hermann F., Sep. 1980). Er ist sich sicher, dass bei dem Anschlag niemand zu Schaden kommen wird und vergewissert sich aus diesem Grund kurz vor seiner Abreise aus Heidelberg noch einmal, dass die Elektronik des Sprengsatzes funktioniert. Doch etwas läuft schief und das Ding explodiert vorzeitig in seinen Händen! Mit Glück überlebt er den Unfall – erblindet und mit zwei Beinen, die amputiert werden müssen. Nachdem Hermann F. beide Augen entfernt wurden und er auf der Intensivstation liegend unter sehr schweren Medikamenten steht, erklärt ihn das LKA bereits am nächsten (!) Morgen für vernehmungsfähig. Ab nun beginnt eine viereinhalb Monate andauernde “Vernehmung” mit dem erblindeten, schwer traumatisierten, absolut hilflosen, orientierungslosen, isolierten, unter Schmerzen leidenden, von Freunden und Anwalt ferngehaltenen und schließlich ohne Haftbefehl in eine Polizeikaserne gesperrten Saboteur. Das Ergebnis dieser Folter an Hermann F.: Ein 1300 Seiten langes Protokoll, das ihn zum Mitglied der Revolutionären Zellen (RZ) macht und zwei weitere Personen, Sonja S. und Christian G., vorwirft Brandanschläge auf eine Rüstungsfirma (KSB), auf MAN die an Atomgeschäften mit dem Apartheids-Staat Südafrika beteiligt sind, sowie einen weiteren Brandanschlag auf das Heidelberger Schloss (wegen Stadtumstrukturierung) verübt zu haben. Hermann hat im Nachhinein alle seine Aussagen widerrufen und berichtet, dass er nicht wisse, was er gesagt habe und was davon richtig sei.

Aber warum interessiert uns das heute, mehr als 30 Jahre später? Weil Sonja und Christian seit dem September 2012 auf der Anklagebank bzw. im Knast in Frankfurt sitzen, um sich vor diesen Vorwürfen zu behaupten. Zwei alte Leute, die 1978 untertauchten, da sie ihre Beschattung bemerkten und im Jahr 2011 dank des neuen europäischen Haftbefehls von Frankreich an Deutschland ausgeliefert wurden. Zu den Vorwürfen der Angriffe auf die AKW-Konzerne und das Heidelberger Schloss ist das Gericht noch keinen Zentimeter vorangekommen. Ein weiterer Anklagepunkt gegen Sonja ist bei der Organisation der OPEC-Geiselnahme (Konferenz von Ministern aus Erdöl-Staaten) in Wien teilgenommen zu haben. Diese Anklage beruht nur auf der Aussage das Verräters Klein, ein ehemaliges Mitglied der RZ, welcher bei Polizei und Gericht Leute verraten hat, um eine geringere Strafe zu bekommen und dadurch andere Leute in die Scheiße bzw. in den Knast geritten hat. Dies scheint Klein fortführen zu wollen, obwohl er seine Strafe bereits abgesessen hat und die Aussage verweigern könnte.

Sonja und Christian hingegen verweigern konsequent die Zusammenarbeit mit allen staatlichen Verfolgungsbehörden. Denn es gibt für Bullen und Richter keine unverdächtigen oder entlastenden Aussage. Alles wird verwertet, und schlimmstenfalls werden andere Leute durch “harmlose” Aussagen belastet. Gegenüber Bullen, Justiz oder Geheimdienst auszusagen, heißt mit diesen zu kooperieren und ihre Ermittlungen zu unterstützen.

Aussageverweigerung – das ist auch der Grund warum die Zeugin Sibylle S., die damalige Lebensgefährtin von Hermann F. seit dem 9. April in Beugehaft sitzt. Sie wehrte sich dagegen, dass die Richterin die unter Folter erzwungenen Aussagen von Hermann F. Weiterhin verwendet und verweigerte konsequent die Aussage. Doch das Gericht steht ihr das Recht zu Schweigen nicht zu und dafür sitzt sie nun bis zu sechs Monate in der Zelle. (mehr Infos zum Prozess und den RZ: www.verdammtlangquer.org)

Wir solidarisieren uns mit Sonja, Christian und Sibylle, weil sie gestern wie heute die Zusammenarbeit mit diesem folternden Staat verweigern. Wir bewundern sie für ihre Jahrzehnte lange unbeugsame Standhaftigkeit im Angesicht von Verfolgung und Klandestinität. Doch darüber hinaus geht es uns nicht darum Sonja und Christians Unschuld zu beteuern, denn die ihnen vorgeworfenen Angriffe sind notwendig und wichtig – gestern wie heute. Die vielen unabhängigen und autonom agierenden Revolutionären Zellen und die Rote Zora (militante feministische Frauengruppe) verübten von den ’70ern bis in die ’90er hunderte diffuse Angriffe auf staatliche, kapitalistische und patriachale Strukturen, auf Gerichte und Staatsanwaltschaften, auf Abtreibungsgegner_innen und Profiteure von Verdrängung und Stadtumstrukturierung, auf Gentechnik und Atomkraftverteidiger_innen, auf Militär und NATO, auf ausbeutende Betriebe und Rassist_innen, sie fackelten Schwarzfahrer_innenkartein ab und flambierten Ausländerämter, solidarisierten sich mit internationalen Befreiungskämpfen, verteilten mehrere 100.000 gefälschte Fahrkarten und Lebensmittelgutscheine und wurden gerade durch diese wirre Unkontrollierbarkeit, diese unüberschaubaren und leicht nachahmbaren Aktionen ohne Führungsanspruch (im Gegensatz zur RAF), ohne angeblichen Masterplan und Hierarchie – durch diese Nähe zu den Leuten zu einer echten Gefahr.

Auch wenn wir nicht überall einer Meinung seien mögen, teilen wir mit den hinter den RZs stehen Menschen viele Ideen und das Verlangen dieses System anzugreifen und niederzureißen. Gestern wie heute gibt es unendlich viel, was wir aus ihren Kämpfen lernen können, was es zu diskutieren gibt, was wir teilen und was uns verbindet und was es gemeinsam anzugreifen gibt!

Ob schuldig oder unschuldig – Solidarität mit Sonja und Christian!

Gestern wie heute – Tausend Gründe für die Revolte!

Freiheit für alle!

Die Revolte, die Auflehnung – das ist Leben. Der Kampf gegen die Maschinisierung des Menschen ist Leben.(…) Todestrip ist es Unrecht, Ausbeutung, Erniedrigung jammernd hinzunehmen(…), sich mit der Repression zu arrangieren, nur weil sie heute noch stärker ist. Wir sind noch wenige, die kämpfen(…), aber in unseren Beziehungen, unseren Kollektiven, unserem Leben realisiert sich ein Teil dessen, was wir wollen.“ (RZ – Mai 1977)