Kein Zentimeter dem Verräter

Verräter, Petzen, Denunzianten, 31er*, Ratten, Spitzel, Kronzeugen – es gibt viele Worte und viele Schattierungen – doch wir alle wissen wer gemeint ist: Diejenigen, die mit den Falschen plappern und einen so ans Messer liefern. Entweder um einen eigenen Vorteil herauszuschlagen, wie mildere Strafen oder Güte der Herrschenden, oder aus purem Gefallen, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen und Vaterstaat, wissen zu lassen, was nicht nach seinen Vorstellungen und Regeln von statten geht. Die erstere Sorte von Verräter, die einstigen Freunde und Komplizen, entschließen sich im Angesicht der Repression oder  in Folge eines plötzlichen Umdenkens dazu, die Seite zu wechseln. Die andere Sorte der Verräter, die Denunzianten, sind allzeit bereit, Fehlverhalten zu melden und zur Anzeige zu bringen. Doch alle sind sie die Augen des Staates, die zu berichten wissen, was sie sehen und gesehen haben. Sie schlüpfen in die Rolle des Bürgers, des Unterwürfigen, und werden Teil des Staates. Denn der demokratische Staat gibt sich nicht nur als bewaffneter Machtapparat zur Verteidigung der Eigentumsverhältnisse, sondern inszeniert sich auch als Garant und Verteidiger allgemeiner Interessen. Und so gebührt auch ihm die Rolle des Schiedsrichters, der entscheidet, welches Verhalten diesem allgemeinen Interesse, unser aller Wohl, im Weg steht und verwarnt oder entfernt werden muss. Jedoch übertrifft der Geltungsbereich dieses (schieds-)richterlichen Urteils die Größe eines Fußballfeldes, denn die besagten Spielregeln müssen immer und überall von allen Mitspielern eingehalten werden, also waltet die Herrschaft dieser Regeln in jeder Facette unser aller Leben. Und um diese auch durchsetzen zu können, bedarf es unserem gemeinsamen Helfen und Mitwirken. Da es ja um den Erhalt unseres kollektiven Glücks geht, werden wir zu dieser Mithilfe nicht nur aufgefordert, sondern regelrecht (im wahrsten Sinne des Wortes**) gezwungen.
Jede zwischenmenschliche Beziehung und jede Bewegung muss also vom Staat vermittelt und überwacht werden, da jedes direkte und unabhängige Verhältnis sich potentiell seiner Herrschaft und Abhängigkeit entziehen kann. So dringt das Bewusstsein und der Blick des Staates in die Köpfe der Bürger und der beurteilende Blick des Schiedsrichters wird verinnerlicht. Der Verrat wird so zur einstudierten und selbstverständlichen Geste, die so natürlich wirkt wie die Fortführung einer familiären Tradition, denn der Verräter bzw. der Bürger wird zum geliebten Sohn von Vater Staat und somit der Träger eines Erbes. Damit der Stammbaum und das Fortleben des Staates nicht vorzeitig endet, bedarf es immerzu derer, die seinen Familiennamen und seine Werte übernehmen und seine Tradition weitertragen, indem sie seine Rolle verinnerlichen, sich ihrer egoistischen Verlangen entledigen und somit sich selbst und alle anderen   kontrollieren dieser Rolle gerecht zu werden. Somit besteht der Staat und seine Funktionsteile nicht nur aus dem Netz von staatlichen Ämtern und Funktionären, denn die Gesellschaft als Ganzes ist Teil des Staates, indem sie sein Eindringen in Köpfe und Beziehungen gewähren lässt, so selbst eine Staatlichkeit in der Art ihrer Beziehungen und Strukturen übernimmt und so abhängig und Teil von ihm wird, weswegen sie nicht umhin kommt ihn immerzu zu erneuern, zu rechtfertigen und zu reproduzieren. Die stramme Disziplin, also die absolute Verleumdung eines eigenen „Ichs“, die Unterordnung des eigenen Willens und der Gehorsam werden so zum gesellschaftlichen Prinzip, das durch das Eindringen von Kontrollstrukturen und -instanzen und letztendlich einer Mentalität der Kontrolle in jeder Facette unseres Lebens geschaffen wird und nicht mehr durch bloße Abschreckung erzwungen wird. So hat der Staat es gar nicht nötig jede ihm günstige Lehre, die von dem Ursprung und Reichweite seiner Macht ablenkt, den Beherrschten einzeln einzupauken. Seine wirkliche Herrschaft besteht darin, die Beherrschten fähig zu machen, solche Theorien selbst hervorzubringen. Schweifen wir in Gedanken nur zu den ganzheitlichen Weltherrschaftserklärungsversuchen, die uns rebellisch gebärdend glauben machen wollen, dass sich die Herrschaft des Kapitals nicht auf den Staat stützt, sondern auf verstaubte und geheime Verschwörungsbünde, Familienclans oder die und die Minderheit, die im Verborgenen die Fäden ziehen. In der Not eine einfache Erklärung für das komplexe Funktionieren der Macht zu finden, verkennen derart Theorien den sozialen Aspekt der Herrschaft und die Verstricktheit von uns allen. So entstellen sie jede Möglichkeit einer Rebellion zu Gunsten der Unantastbarkeit der Macht und  hinterlassen handlungsunfähige Beherrschte, die glauben die Wahrheit über den Ursprung der Macht zu wissen und sie nur zu enthüllen und predigen zu müssen. Derart selbstmörderische Theorien der Beherrschten sind keine heimlich untergeschobenen Kinder des Staates. Sie sind ihre natürlichen Kinder: von ihnen geboren, von ihnen genährt. Wenn auch Kinder der Vergewaltigung.

Doch zurück zum Startpunkt: Wie verhindern wir, dass unsere eigenen Beziehungen von dieser besagten Kontrollmentalität infiziert werden oder gar Kontrollbesessene, die diversen Augen des Staates, in unsere Freundschaften und Komplizenschaften eindringen? Wie können wir uns vor Verrat schützen?
Da der Mensch komplizierter gestrickt ist als die Maschine, ist er und seine Einzigartigkeit auch schwerer zu verstehen. Wenn das Ausstechen von Augen des Staates bei einer Kamera oder einem Handy recht simpel ist, gestaltet sich das Problem bei einem Menschen als schwieriger, da es kein Kabel zum Kontrollp(f)osten gibt, das man kappen kann, oder sich eine SIM-Karte versteckt, die man entfernen kann. Um Vertrauen zu gewinnen und herauszufinden, ob ein Gegenüber für sich behält, was seine Augen sehen und seine Ohren hören, muss man auch über seine Einzigartigkeit Zugang zu ihm und seinem Denken und Handeln finden. Bevor man gemeinsame Erfahrungen macht, muss man Kenntnisse voneinander gewinnen, individuelle Hintergründe erforschen – wie und warum jemand wurde, was er ist – und so herausfinden, ob derjenige wirklich niemals mit den Bullen quatschen würde. Nicht mit den Bullen zu quatschen heißt auch, Probleme nicht zu delegieren, sondern selbst nachdenken und Entscheidungen fällen zu können. Und somit Verantwortung für diese Entscheidungen und für das eigene Leben zu übernehmen. Wenn dieses Vertrauen soweit gewonnen ist, fehlt nur noch der Schritt zu schauen, inwieweit es auch stimmt, dass für denjenigen Polizisten keine Freunde und Helfer sind. Denn wenn jemand sagt, dass Bullen keine Freunde sind, heißt das auch, dass er keine Freunde bei den Bullen hat, die Freunde von seinen Freunden keine Freunde bei den Bullen haben und auch die Freundesfreunde seiner Freunde keine Freunde bei den Bullen haben. Das hat nur etwas mit dem Vermeiden von bösen Überraschungen zu tun und nicht mit dem Erbringen von Beweisen und Zeugnissen oder der Schaffung einer Uniformität. Denn wirkliches Vertrauen fängt da an, wo Uniformität aufhört. Die Komplizenschaft ist das Gegenteil einer staatlichen Beziehung: Fernab von der Dummheit der Masse und der Feigheit des Einzelnen, fernab von Disziplin und uniformierter Gleichschaltung, von bürokratischen und geschäftlichen Beziehungen, von Vermittlung und Verwaltung, entsteht sie durch die Harmonie und Anziehung unterschiedlicher Individuen, lebt von den eigenen Ideen, Fantasien, Plänen und Perspektiven und schmiedet dementsprechend unberechenbar ihre Werkzeuge.
Doch wenn wir über das Knüpfen von Komplizenschaften und das Vermeiden von unangenehmen Bekanntschaften reden, sollten wir auch über den Umgang mit erwiesenen Verrätern reden. Ohne eurer Kreativität und eurem Hass Grenzen oder einen Rahmen aufzwingen zu wollen, sollte der Umgang, abhängig von der Form des Verrats, auf jeden Fall diese Merkmale haben: Dem Verräter oder Denunzianten muss klar gemacht werden, dass er sich und anderen niemals hilft, wenn er die Bullen ruft oder mit ihnen quatscht. Nicht nur, dass er damit Leute womöglich in den Knast bringt, macht er sich so selbst zum Bullen und ermächtigt sich, sich in das Leben anderer Leute einzumischen und sie abzustrafen. Es versteht sich von selbst, dass jede Beziehung, insofern sie je bestand, abgebrochen werden muss, womit der Verräter oft nur noch alleine mit seinen neuen Freunden bei der Polizei da steht. An diesen Punkt anschließend lohnt es sich möglichst viele Leute darüber wissen zu lassen, dass derjenige gerne plappert und andere Leute womöglich ins Loch bringt oder gebracht hat. Denn wenn jemand einem Verräter die Hand schüttelt, soll er das auch wissen!

* §31 (BtmG): Strafmilderung oder Absehen von Strafe:  Das Gericht kann die Strafe mildern oder von Strafe absehen, wenn der Täter durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, das eine Straftat, die mit seiner Tat im Zusammenhang steht, aufgedeckt werden konnte, oder wenn er freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, dass eine Straftat noch verhindert werden kann.
** Unterlassene Hilfeleistung bezieht sich auch auf die unterlassene Abwendung einer gemeinen Gefahr, also einer Gefahr, die unser gemeinsames Glück und dessen Voraussetzungen gefährdet – den Staat und seine Infrastruktur.