Über die zweite Stammstrecke

Für die nächsten Jahre steht in München ein weiteres Nahverkehrs-Großprojekt an: Neben etlichen Aufwertungen von U- und S-Bahnhöfen soll die zweite Stammstrecke gebaut werden. Diese soll den schnelleren Transport von immer mehr Menschen gewährleisten, da München immer weiter wächst und so das restliche Verkehrsnetz entlastet werden soll. Die Pläne für dieses Projekt wurden schon vor Jahren angekündigt und ebenso lang regt sich ein bürgerlicher Unmut gegen die damit einhergehenden Kosten in Milliardenhöhe und das durch die Baustellen entstehende Verkehrschaos und die Unordnung im Viertel. Doch anstatt unseren Protest nur gegen die Umsetzung und Planung zu richten und eine nachhaltigere und rücksichtsvollere Baupolitik zu fordern, wollen wir fragen was die Funktion des Nahverkehrs und dessen stetigem Ausbau ist.

In unserem klar strukturierten Alltag müssen wir von Ort zu Ort hetzen um unseren Stundenplan einzuhalten und all unsere Pflichten zu erledigen. Wir fahren von unserer Wohnung zur Arbeit, zur Schule oder Uni und danach in den Supermarkt oder das Einkaufszentrum, zu Institutionen und Ämtern, in Restaurants oder Imbissbuden und wenn dann noch Zeit verbleibt zu Freund_innen, ins Fitnessstudio, den Park, in die Disco oder die Einkaufsstraße.
Bei nahezu all diesen Wegen sind wir auf das Nahverkehrssystem angewiesen, auf ein sicheres und schnelles Fortbewegen ohne Verspätungen. Der Nahverkehr wird zum Bindeglied unserer Tagesplanung und Pflichten, er garantiert uns all die Aufgaben die wir zu erledigen haben auch wirklich erledigen zu können. Das Nahverkehrssystem ist wesentlich für unser  alltägliches Funktionieren und wenn es zu Verspätungen und Unterbrechungen kommen gerät unser ganzer Stundenplan ins Wanken und wir kommen zu spät oder gar nicht zur Arbeit, zur Schule etc.
Aber das Nahverkehrssystem ist nicht nur für unseren Alltag und unsere alltäglichen Wege elementar, sondern für die komplette Stadt. Unsere Arbeitgeber_innen, all die Firmen und Institutionen für die wir arbeiten, unsere Lehrer_innen und Direktor_innen, die ganzen Menschen und Ämter mit denen wir Termine vereinbart haben, alle, die damit rechnen, dass wir zu einer bestimmten Zeit auf der Matte stehen, zählen auf unsere Zuverlässigkeit und somit auch auf die des Nahverkehrs. Die ganze Stadt wird durch den Nahverkehr verbunden und somit ist die Terminplanung und Zeiteinteilung der ganzen Stadt auf das Nahverkehrssystem angewiesen. Der Nahverkehr ist die Logistik, der Transport, die Infrastruktur, ja das Bindeglied der städtischen Ökonomie, denn nur durch sein Funktionieren geraten alle Arbeitskräfte an ihren Arbeitsplatz und nur so verläuft der städtische Alltag störungsfrei.
Und da ist es selbstverständlich, dass alle daran interessiert sind, diese Nahverkehrsverbindungen immer weiter zu optimieren. Schnellere Anschlüsse und Verbindungen, bessere Züge und Busse, mehr Strecken und Haltestellen,  schickere Bahnhöfe und Tunnel und ausgereiftere Planung und Technik. Alles wird fortschrittlicher, damit wir schneller arbeiten, schneller konsumieren, schneller essen, schneller lernen, schneller schlafen, uns schneller amüsieren und schneller leben. Dieser Fortschritt versucht uns beizubringen, dass alles Schritt für Schritt verbessert wird und wir uns auf einer Bahn befinden, die alles perfektioniert und uns immer mehr Vorteile verschafft. Wir scheinen uns in einem Prozess zu befinden, der ebenso Ergebnis von vorausgegangenen fortschrittlichen Projekten ist und der uns stetig bessere Lebensumstände bereitet. Doch wenn wir diesen Prozess kritisieren, da er uns unsere Freiheit und unsere Selbstbestimmung raubt, hat es keinen Sinn den Versuch zu unternehmen auf seine Umsetzung einzuwirken und ihn in eine andere Richtung zu wenden. Wenn wir das Nahverkehrssystem auf Grund von seiner Überwachung, auf Grund von den stattfinden Kontrollen und zu hohen Fahrpreisen kritisieren, hat es ebenso keinen Sinn ein kostenloses Nahverkehrssystem ohne Überwachung zu fordern. Zwar wollen wir ebenso gegen diese Kontrolle und Überwachung rebellieren, doch nicht ohne die allgemeine Funktion des Nahverkehrssystems und seine Auswirkung auf unsere sozialen Beziehungen aus den Augen zu verlieren. Wenn wir aus unserer alltäglichen Gefangenschaft ausbrechen wollen, heißt dass diesen Prozess des Fortschritts zu unterbrechen und somit neue Wege zu eröffnen.
Das Nahverkehrssystem kontrolliert und überwacht uns nicht nur durch seine endlosen elektronischen Augen und Kontrolleure, es zieht uns nicht nur Geld aus der Tasche und es gleicht mit seinen überall patrouillierenden  Bullen und U-Bahnwachen nicht nur einem militarisiertem Gebiet, nein, es spiegelt auch unsere Beziehung zu unserer Umwelt, unser Verhältnis zu Bewegung durch Raum und Zeit wieder. Die Stadt wird zu einem Netz aus Haltestellen und Stopps und alles was dazwischen liegt wird zu einem Weg, den wir nur passieren müssen. Wir bewegen uns nur von Ziel zu Ziel, alles dazwischen durchlaufen wir möglichst schnell und effektiv. Es geht nur darum den Weg hinter sich zu lassen und die Bestimmung zu erreichen. Abgesehen davon, dass diese Bestimmungen alles Orte sind an denen wir etwas für Geld tun oder etwas von Geld tun(?), es also alles Orte des Kapitals sind, legen wir auf diesem Weg jede selbstbestimmte Bewegungsmöglichkeit ab. Wir werden nur transportiert und können nicht nach freiem Willen umherschweifen und neue Territorien erkunden, sie kennen lernen, uns unserer Umgebung bewusst werden, sie verändern uns und von ihnen verändern lassen.  Abgeschirmt von außen ist der Weg schon längst nicht mehr das Ziel, denn auf diesem Weg durch die urbane Ödnis gibt es ja auch scheinbar nichts zu entdecken. Alles ist vom Verkehr beherrscht und alle wollen rastlos irgendwohin eilen oder fahren, denn jede_r weiß, was er_ sie als nächstes zu erledigen hat. Der Verkehr wird zur absoluten Verhinderung von Begegnungen, da jede Art von Teilnahme und Bezugnahme durch die Isolation und zellenartige Eingliederung der Individuen in den Raum unmöglich gemacht wird.

Ohnehin ist die Funktion des Raumes, also bsp. der U-Bahn, fest definiert und so wird uns die Möglichkeit entzogen den Raum je nach Belieben einen unterschiedlich Sinn zu geben und gleichzeitig anders zu nutzen. So wird die Offenheit des Raumes, die unbestimmte Tiefe seiner Möglichkeiten zerstört, da uns die Fähigkeit, die Selbstbestimmung und Beteiligung am Schaffensprozess entrissen wurde. Die auf diesem Weg erzielte gleichgesteuerte Programmierung des Verhaltens, die zerstückelten Abläufe und Isolation der Menschen bzw. Fahrgäste erlaubt kaum Spielraum für eine andere Sinngebung des Raumes. Diese Abstumpfung und Unfreiheit braucht keinen befehlenden Chef oder Direktor, da jeder Mensch die eigene Unbefriedigtheit auf die eigene Wahrnehmung, das eigene Verhalten und die eigene Deutung der Umgebung zurückführt und durch den stummen Nebenmenschen noch darin bestätigt wird.

Unser imaginärer Stundenplan hat uns fest im Griff oder wir verspüren zumindest seinen heißen Atem und so bleibt uns auf unseren Pfaden durch das städtische Niemandsland kein Moment für Freizügigkeit und Spontanität, höchstens die spontane Entscheidung etwas zu konsumieren. Die Wege, die wir hinter uns lassen sind immer an einen gesellschaftlichen Zusammenhang und dessen Umstände  gebunden und werden von diesem bestimmt. Jede Möglichkeit unsere Bewegung als Reise zu begreifen, frei von festen Zielen, Terminen, Maßeinheiten, geradlinigen Wegen und festen Plänen wird uns genommen.

Das Nahverkehrssystem ist schlicht Ausdruck dieses isolierten, rationalisierten und auf Effektivität ausgerichteten Lebens, in dem uns keine Zeit für spontane und selbst bestimmte Aktivitäten und Entdeckungen bleiben, die nicht in den Rahmen eines Arbeits- oder Freizeitprogramms passen. Genauso wurde das Nahverkehrssystem aus diesen Gründen, aus der Notwendigkeit einer effektiven und schnellen Infrastruktur für die Ökonomie, etabliert und ist auch an Hand dieser kapitalistischen Anforderungen konstruiert und ausgerichtet. Die Einführung des Nahverkehrssystems spiegelt schlicht die Gesellschaft wieder, die es produziert hat und die Einführung dieses technologischen Instruments verändert die Beziehung zwischen den Individuen dieser Gesellschaft und ihrer Umwelt. Somit reproduziert das Nahverkehrssystem weit mehr eine soziale Beziehung, ein System wieder, als das was die Gesellschaft damit angestellt hat. Das Nahverkehrssystem ist keine neutrale Infrastruktur, der mensch einen freiheitlichen und anderen Beigeschmack einhauchen könnte. Der Bus, der uns zur Arbeit bringen soll, wurde schlicht nach den Gesichtspunkten der rationalen Effektivität, des Profits, der Disziplin und der Ordnung konstruiert und wird diesen Charakter auch immer in sich tragen. Auch wenn wir uns für eine Busfahrt kein Ticket kaufen müssten und nicht von den misstrauischen Augen der Kameras und Kontrolleure begutachten würden, bleibt die Busfahrt eine dem Schlafwandeln ähnliche abgestumpfte Bewusstlosigkeit.

Aber es geht hier keineswegs darum festzulegen, ob in einer Welt ohne Fremdbestimmung, ohne Kapital und Profitlogik noch Straßenbahnen oder Busse existieren würden. Unsere Träume kennen keine Programme und Vorgaben, noch wollen sie der Zerstörung von Herrschaftsstrukturen Grenzen setzen. Es geht schlicht darum das Nahverkehrssystem als Bindeglied und logistisches Netz des Kapitalismus, der Herrschaft und unserer alltäglichen Zwänge zu begreifen. Wenn wir die Dinge aus dieser Sicht sehen und uns als nächstes nach Möglichkeiten des Angriffs, der Sabotage und des direkten Handelns fragen, nehmen wir den Aufbau des Nahverkehrssystems unter die Lupe: Auch dieses besteht aus etlichen Bindegliedern, aus Bausteinen, die auf einander angewiesen sind. Die Unversehrtheit jedes Reifens, jedes Kabels, jeder Schiene, jeder Leitung, jedes Fahrzeuges und jeder freien Fahrbahn ist  die Voraussetzung für das Funktionieren dieses Nahverkehrs. Wenn eines dieser Bindeglieder beschädigt, kaputt, unbenutzbar oder zerstört ist, führt das augenblicklich zu Unterbrechungen, zu Verspätungen, zu einem Chaos – zu kleinen Irritationen des alltäglichen Geschäftsbetriebs bis hin zum Kollabieren der ganzen Infrastruktur. Die einzelnen Bausteine dieses großen Kartenhauses sind überall auffindbar, denn sie erstrecken ihr Netz über die ganze Stadt und somit sind sie auch überall schnell, einfach, unbemerkt und zahlreich angreifbar.
Jeder Angriff, jeder Augenblick in dem sich jemand an etwas zu schaffen gemacht hat, jedes Sandkorn im Getriebe löst eine Entschleunigung aus und verschafft eine Lücke, Platz für Handlungen, die sonst nicht möglich sind. Wenn unsere U-Bahn nicht fährt, heißt das nicht, dass wir warten bis sie wieder fährt. In dieser Zeit, in der wir nicht zu unseren Terminen gelangen können und uns unseren Pflichten entziehen, können wir die Unterbrechung als Möglichkeit wahrnehmen den freien Platz zu nutzen und ihm Bedeutung zu verschaffen oder die Entschleunigung in Raum und Zeit auszuweiten.
Ebenso wie für Aufständische, die die Produktion, den Nahverkehr, Autobahnen und Kreuzungen blockiert haben, damit die Normalität nicht wieder zurückkehrt und alles seinen Lauf nimmt, ist für uns in diesen Momenten der Unterbrechung alles machbar und kein Vorhaben unmöglich.
Also lasst uns Pläne schmieden und zündende Ideen spinnen!