Diskussion: Anmerkungen zu „Wenn die ganze Welt krank ist“

Man merkt dem Text die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben in einer anderen, besseren Welt an. Denn dass die bestehende Gesellschaft knallhart Anpassung durchsetzt und krank macht, ist richtig beobachtet. Richtig ist auch, die bestehenden Lebensumstände in Zweifel zu ziehen, nicht alles als gegeben zu akzeptieren und die eigenen Interessen gegen die herrschenden Mächte zu verteidigen. Die formieren in der Tat auch das Gefühlsleben: Leidenschaftlichkeit und Kreativität z.B. darf und soll man beim Karriere machen an den Tag legen.

Die Schwäche des Textes ist allerdings seine Unbestimmtheit an manchen Stellen.

Das fängt schon beim Titel an. Die metaphorische Redeweise, die Welt sei krank, wirft doch sofort die Frage auf, woran sie denn erkrankt ist, d.h. was genau nicht in Ordnung ist und was dafür der Grund ist.

Die Aussage, dass „unsere Wünsche“, „unsere Bedürfnisse und Vorstellungen“ nicht verwirklicht werden können taugt in dieser Abstraktheit nicht als Argument. Die Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen müssen schon inhaltlich bestimmt werden, denn sonst könnte auch jeder Islamist, Faschist und Pädophile sich angesprochen fühlen. Und an diese Zielgruppen hat der Autor sicher nicht gedacht…

Ähnlich unklar und nebulös ist das „Bedürfnis nach Kreation“: Da wird gesagt, dass der Autor/in „die Struktur und die Rollen in dieser Gesellschaft verändern und gestalten“ möchte. Warum ist diese Veränderung nötig und woran ist gedacht in Sachen Veränderung? An einer nachvollziehbaren Kritik der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft führt wohl kein Weg vorbei: In der leben Politiker und Bürokraten ihr „Gestaltungsbedürfnis“ dahingehend aus, dass die marktwirtschaftliche Ordnung voran kommt, die Armut im Lande effizient und kostensparend verwaltet wird, die Armee aufgestockt und das Rentenniveau abgesenkt wird, die Steuern sprudeln und „wir“ endlich mehr militärische Verantwortung weltweit übernehmen etc. Das sind einige Zwecke, die der deutsche Staat aktuell verfolgt – selbstverständlich unter Einsatz seines Gewaltmonopols. „Unterdrücken“ muss er dabei eher selten jemand, denn dank der Demokratie beruht diese Herrschaftsordnung nicht nur auf Gewalt, sondern auch auf der Zustimmung der Bürger. Die dürfen sogar, wenn sie unzufrieden sind, das Herrschaftspersonal austauschen; der Kapitalismus und die staatliche Herrschaft können allerdings nicht abgewählt werden…

Was weiter niemand stört – im Gegenteil. Im Namen der Freiheit leugnen demokratische Bürger die Herrschaft, auf die sie sich positiv beziehen und die sie für sich nutzen wollen, gegen konkurrierende Interessen. Nur die Linken und Anarchisten drehen den Spieß um und sehen bloß mangelnde Freiheit, keine Freiheit, keine „wirkliche Freiheit“, mit einem Wort nichts als „Unterdrückung“. In Wirklichkeit sind Freiheit und Herrschaft gar keine Gegensätze: Der moderne demokratische Rechtsstaat ist eine Herrschaftsordnung, die Rechte gewährt und Freiheit(en) durchsetzt. Die reale Freiheit – nicht ihr Ideal! – ist also etwas Erlaubtes, etwas von oben Gewährtes, und hat auf jeden Fall mit Herrschaftslosigkeit nichts zu tun. Von Freiheit zu reden macht nur Sinn im Verhältnis zu einer herrschenden Macht; zu der hat der Bürger wie gesagt einen positiven Bezug, den der Artikel leider nicht madig macht.

Tatsächlich fühlen sich die Bürger hierzulande keineswegs wie im „Knast“, sondern als ihres Glückes Schmied, was einschließt, dass man selber schuld ist, wenn aus dem Glück wenig bis nichts wird. Allenfalls entdecken sie „Ungerechtigkeiten“, d.h. Schuldige (unfähige Bürokraten, die falschen Politiker, Schmarotzer, Ausländer etc.), die das gute System versauen…

Wer fehlende Freiheit und mangelnde Gerechtigkeit beklagt, ist leider noch ziemlich der Gesellschaft verhaftet, die er doch ablehnt und beseitigen möchte. „Beseitigen wir die Ursachen unseres Leidens“ – auch die im Bewusstsein.