Neues aus der Anstalt

Auf Titelseiten, auf Wahlplakaten, im Fernsehen, im Justizministerium – seit Monaten scheint ein Name geradezu jedes Gemüt auf Trab zu halten: Gustl Mollath – ein Mann der kürzlich noch in der Psychiatrie saß. Eigentlich ungewöhnlich, hört man sonst doch eigentlich nur etwas aus diesem gerne auch “Irrenhaus” oder “Klappse” genannten Fleckchen Stadt, wenn da mal gerade wieder jemand Suizid begangen hat oder ein weiterer “Verrückter” dort den Rest seiner Tage fristen darf. Gustl Mollath hingegen ist angeblich ein ganz besonderer Ausnahmefall, da die Delikte, die er in einem Ehestreit begangen haben soll, juristisch und psychiatrisch nicht einwandfrei nachgewiesen sind bzw. die Beweislage mehr als zweifelhaft ist. Einige Zeitungen haben sich besonders engagiert, diesen “Skandal” ins Rampenlicht zu rücken (bis G.M. vor der Justizministerin ein Ständchen halten durfte), da die Vorgehensweise und Methode des Verfahrens äußerst “unfair” und “ungerecht” ist. Plötzlich beschäftigt sich jede_r und alles, das im öffentlichen Leben etwas zu sagen hat mit diesem Fall, plötzlich finden alle erstaunt heraus, dass die Bürokraten, die G. Mollath Jahr für Jahr noch länger in der Psychiatrie behalten wollten, den armen Kerl noch nie gesehen oder mit ihm gesprochen hatten und plötzlich kommen nahezu alle zu dem Schluss, dass es “nicht legitim ist, dass G.M. in der Psychiatrie eingesperrt ist” und “er ungerechterweise für verrückt erklärt wurde”. Dieser Aufschrei der Entrüstung sorgte letztendlich sogar für G.M. Freilassung und vor nicht allzu langer Zeit verließ er unter tobendem Blitzlichtgewitter sein altes zu Hause. Hohe politische und juristische Instanzen bestätigten Ungereimtheiten in der “Affäre Mollath” und nun wird dass Verfahren neu aufgerollt. Vorerst darf G.M. also ein bisschen bayerische Sommerluft schnuppern. Doch bei all dem Medientrubel haben anscheinend all die erregten Gemüter übersehen, dass die gleichen juristischen Methoden alle anderen “Geisteskranken” auch betreffen und auf den Schreibtischen der selben Bürokraten nicht nur die Akte “Mollath” abgestempelt wurde.

 

Der Blickwinkel, den Politiker_innen und Journalist_innen bei der Sache haben, zeigt das Wort “verrückt”: Jemand rückt von der Position, von der Norm und den Erwartungen eines gesunden und funktionierenden Bürgers ab oder wird dorthin ver-rückt. Also ist er_sie vom rechten und normalen Weg an den Rand verrückt und ist schlicht und einfach “krank” und anders. Wie geschieht so etwas? Dadurch, dass jemand etwas unerwünschtes, nicht nachvollziehbares oder “grausames” macht. Dadurch, dass jemand eine “krankhafte”, für andere schädliche und unheilbare Haltung hat oder ein solches Denken oder Verhalten an den Tag legt. Es ist egal ob jemand etwas aus Verzweiflung, aus Frustration, aus purer Blindheit, aus eigenen Motiven, oder als bloße Reaktion auf etwas tut – denn was für Psychater_innen und Gesellschaft zählt, ist die bloße Einteilung des Verhaltens in die Kategorien “krank” und “gesund”. Fragen und Rücksicht auf ein “Wie?” und “Warum?” etwas passiert, haben hierbei keinen Platz.

 

Es geht mir hiermit nicht darum, alle “Geisteskrankheiten” oder “Verbrechen” über einen Kamm zu scheren, zu bewerten oder nachzuvollziehen. Ein Mensch funktioniert nicht wie eine mathematische Gleichung, die bei bestimmten Komponenten bestimmte Ergebnisse hervorbringt. Obwohl wir alle von gesellschaftlichen Normen geprägt sind und alle Strukturen in denen wir uns bewegen, eine freie Entfaltung unserer selbst verunmöglichen, handelt und denkt jedes Individuum auf seine eigene Art und Weise, hat einen besonderen Lebensweg in der jeweils spezifischen Lebensrealität und reagiert individuell auf bestimmte Vorkommnisse, Begegnungen und Umstände. Ein plumpes Beispiel: Jede_r von uns kennt seit dem Kindesalter die Polizei und es gibt wohl seit Anbeginn der Zeitrechnung auf nahezu jedem Breitengrad der Erde vergleichbare Truppen von Ordnungshütern. Trotz alledem reagiert jede_r unterschiedlich auf ihr Auftreten. Manche ignorieren sie oder lassen sich von ihnen helfen, andere haben Angst oder sind eingeschüchtert und einige wenige lassen sich ihre Kontrollen und Autorität nicht einfach aufzwingen und drücken ihren Unmut in Worten oder handfesten Argumenten aus. Hier sind das dann meistens, “verwirrte, geistig kranke Einzeltäter” oder “Chaoten” oder “Terroristen”. Die gleichen Staatsbüttel, die dafür sorgen, dass solche Menschen dann im Knast oder der Psychiatrie landen, sehen keinen Widerspruch darin, bspw. die Menschen, die in Ägypten abertausende Steine und Molotow-Cocktails in Richtung Polizei werfen, als “Freiheitskämpfer” und “Demokraten” zu bezeichnen. Während natürlich der ägyptische Staat wiederum die gleichen Menschen auf den Barrikaden als “Terroristen” und “Chaoten” bezeichnet.

 

Kurzum: Diese Gesellschaft und der dazugehörige Staats- und Justizapparat steckt Individuen in Kategorien von funktionstüchtig und gesellschaftsfähig um die schwarzen Schafe einzusperren und unsichtbar zu machen, damit alles wie gehabt ungestört weiter läuft. Besonderheiten, Motivationen, Gründe und der Kontext der Entstehung von sogenannten “Krankheiten” und “Verbrechen” werden verschleiert und übersehen und so eine Beschäftigung, eine Diskussion, ein Anschauen und Zuhören und auch individuelle Konfliktlösungen (nicht zu verwechseln mit Selbstjustiz) vermeidet und verunmöglicht, da nur eine Beurteilung, ein Abstempeln und Richten nach festen Paragraphen statt findet, das daran orientiert ist zu einem Ergebnis (schuldig oder unschuldig bzw. krank oder gesund) und nur zu einer scheinbaren Lösung (Medikamente, Bestrafung, Einsperrung etc.) für ein “Verbrechen” oder eine “Krankheit” und nicht für deren sozialen Ursprung zu kommen. So wird durch das ritualisierte Justizverfahren – das teilweise einem Gottesdienst erstaunlich ähnelt – eine uneingeschränkte Kontrolle über die Übeltäter, über all die Gefährlichen, Verrückten und Unerwünschten erlangt, da sie entweder weggesperrt oder mit Medikamenten vollgepumpt werden und darüber hinaus noch der ganze brave Rest an diesen Vorführbeispielen abgeschreckt wird, damit auch ja alle auf ihren reservierten Plätzen bleiben.

Diese Methode des Bestrafen, Wegsperren, Isolieren, mit Medikamenten gerade biegen und an den Rand verrücken ist kein “ungerechter Fehler” in einem juristischen Prozess, sondern ein Grundbaustein dieser Gesellschaft, der sich von Institutionen wie Schule, Klinik, Psychiatrie, Knast bis hinzu gesellschaftlichen Normen und Verhaltensweisen wie ein roter Faden hindurchzieht. Wenn ich die erstaunten Zeilen und Kommentare der Journalist_innen lese, die plötzlich bei der Veröffentlichung von Bildern der Psychiatrie in der G.M. sitzt, erstaunliche Ähnlichkeiten mit einem Gefängnis bemerken, weiß ich, dass diese Journalist_innen schlicht weg nicht mit den Bestrafungsinstanzen dieser Gesellschaft in Konflikt kommen, denn sonst hätten sie ihre Ähnlichkeit sicherlich bemerkt. Sie gehören bestimmt nicht zu denjenigen, die in ihrer Kindheit Hausarrest bekommen haben, in der Schule in der Ecke stehen oder in ihrer Freizeit “Nachsitzen” mussten, die schon mal eine oder mehrere Nächte in einer Zelle verbracht haben oder von ihrem Freund oder Gatten regelmäßig Gewalt zu spüren bekommen. Vielleicht haben sie diese Erfahrungen auch vergessen, sie verdrängt oder konnten sie los werden. Würden all diese Sklaven der Presse ihre Lebensbedingungen nicht ertragen oder akzeptieren, würden sie nicht von dieser Gesellschaftsordnung profitieren und als angesehene Journalist_innen betrachtet werden, sondern als gefährlich, “verrückt” oder kriminell, wüssten sie, dass dieser subtile oder offensichtliche Ausdruck von Bestrafung, Gewalt und Autorität ein Stoff ist, aus dem diese Gesellschaft gestrickt ist. Keine in den Augen von einigen vielleicht hässliche, in den Augen von anderen ertragbare Eiterbeule, die mit Glück und dem scharfen Skalpell der Reform, des Fortschritts und der Bürokratie zu entfernen bzw. abzuschaffen ist, sondern das Fundament eines Kolosses, von dem wir nur Ruinen übrig lassen wollen.

Nur der Tanz auf den Trümmern der alten Welt kann Platz für Neues schaffen.