Die Revolte im Sudan

Durchgehend werden wir mit Belanglosigkeiten überschwemmt und mit Nichtigkeiten zugetextet. Wenn diese Nichtigkeiten mit ein paar Informationen gestreckt werden, nennt man das Nachrichten. Aber was für eine Bedeutung haben diese Nachrichten? Haben diese Informationen mit denen wir bombardiert werden, eine reale Auswirkung auf unser Leben und Handeln, oder bleiben sie eben nur das: Nachrichten. Informationsschnipsel aus einer von uns getrennt scheinenden Welt, ohne Beziehung zu unserem Alltag. Damit wir Informationen nutzen können, müssen wir diese reflektieren, versuchen den Kontext zu verstehen und unsere eigenen Schlüsse daraus ziehen.

Als bloße Randnotiz konnte man Mitte April davon hören, dass im Sudan der seit fast 30 Jahren regierende Diktator gestürzt wurde (übrigens mehr oder weniger gleichzeitig damit, dass der langjährige Präsident Algeriens von Millionen von Protestierenden zum Rücktritt gezwungen wurde). Nicht zum ersten Mal in der jüngeren Vergangenheit des Sudans. Schon 1964 und 1985 kam es zu Aufständen die die damaligen Regimes stürzten.

Einer der Tropfen, der das Fass dieses Mal zum Überlaufen brachte, war die Entscheidung der Regierung den Brotpreis von einen Tag auf den anderen um das fünffache zu erhöhen. Als Antwort darauf strömten am 18. Dezember 2018 in der Stadt Atbara die Schülerinnen und Schüler auf die Straße. Das Feuer war entfacht: Am nächsten Tag verwandelte sich der Protest in einen Massenaufstand, tausende Leute nahmen sich die Straße, die Polizei versuchte erfolglos die Wütenden zu zerstreuen bis ihnen schließlich das Tränengas ausging. Mit Molotov-Cocktails brannten die Protestierenden den Hauptsitz der Regierungspartei bis auf die Grundmauern nieder.

Die Revolte weitete sich schnell auf andere Städte und Dörfer im ganzen Land aus und die Protestierenden nahmen von Anfang an Bezug auf die Revolten im Zuge des sogenannten arabischen Frühlings 2011. Der damals überall benutzte Slogan „Die Menschen wollen das Regime stürzen“ hallte jetzt von den Straßen und Plätzen im gesamten Sudan wieder. Frauen waren vielen Berichten zufolge in der Bewegung oft in der Mehrzahl und sie waren es, die den Protest vorantrieben. Das ist insofern interessant, da das soziale Klima des Sudans stark von der Religion beeinflusst wird und das politische Klima geprägt ist von einer konservativen Auslegung des Islams und islamistischen Gruppen. Berichte von Frauen sprechen somit von einem tiefgreifendem Bruch mit der Normalität: es handle sich nicht nur um ein Aufbegehren gegen die Regierung und die Staatsmacht sondern ebenso gegen die patriarchalen Herrschaftsstrukturen wie Familie, Normen, etc.
Die Proteste, im Zuge deren dutzende Menschen getötet und hunderte verletzt wurden, gipfelten im April in einem massiven Sit-In vor dem Militärhauptquartier in der Hauptstadt Khartoum. Am 11. April gab das Militär dem Druck der Straße nach, putschte sich an die Macht und stürzte den Diktator Bashir. Dabei gaben sie vor auf der Seite der Demonstranten zu stehen und die Menschen vor den paramilitärischen Schlägertrupps Bashirs zu beschützen. In Wirklichkeit war und ist die militärische Führung natürlich eng mit den politischen Führern verbandelt und hat bloß die Möglichkeit genutzt, die Macht an sich zu reißen. So bestand der von ihnen eingesetzte Übergangsrat fast durchgehend aus Militärs und Teilen der Führungsclique um den entmachteten Ex-Diktator. Das war anscheinend auch der Mehrzahl der Protestierenden klar: Der Präsident dieses Übergangsrats musste aufgrund andauernder Proteste noch am Tag seiner Ernennung wieder zurücktreten.

Der Übergangsrat versuchte mit der Bewegung über die Formierung einer Regierung zu verhandeln, aber die Mehrzahl der Protestierenden blieb mehr als skeptisch und hielt den Vorplatz des Militärhauptquartiers weiterhin besetzt. Die Verhandlungen brachen ab, als große Teile der Bewegung eine zivile Regierung forderten und gleichzeitig Saudi Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten, dem Übergangsrat ihre politische und wirtschaftliche Unterstützung zusagten.

Das Handeln der Regionalmächte zeigt, dass sie Angst davor haben, dass sich diese rebellische Energie erneut über Ländergrenzen hinweg ausbreitet, dass der revolutionäre Funke erneut die Straßen der ganzen arabischen Welt in Flammen setzt.

Genauso wenig wie die Regionalmächten haben die USA, die EU oder Russland ein Interesse an einer sich ausbreitenden Revolte, gerade hat man sich wieder mit den neuen Machthabern arrangiert und Abkommen mit den lokalen Warlords geschlossen. Das wichtigste ist ja die „Stabilität“, soll heißen der freie Geld- und Warenfluss einerseits und andererseits das Stoppen der Flüchtlingsströme bevor sie Europa erreichen.

Kurz darauf begann der Übergangsrat die Proteste zu kriminalisieren und erklärte den Sit-in vor dem Hauptquartier zu einer „Sicherheitsbedrohung“. Wenige Tage danach, am 3. Juni, attackierten paramilitärische Milizen das seit Monaten bestehende Camp und griffen die Menschen auf dem Platz mit scharfer Munition an und brannte die Zelte der Demonstranten nieder. Dabei ermordeten sie über 120 Menschen, vergewaltigten Dutzende und verletzten weit über 700. Während diese regimetreuen und militärnahen Milizen ihr Massaker veranstaltete, sah die Armee, die anfangs verkündet hatte die Protestierenden zu beschützen, billigend zu oder machte mit. Gleichzeitig kappte der Militärrat das Internet im ganzen Land.

Diese immer öfters bei Aufständen angewandte Taktik scheint jedoch für die Machthaber zumindest ein zweischneidiges Schwert zu sein. Durch das Abschalten des Internets wird es schwieriger für Menschen sich zu verabreden oder Informationen zu verbreiten, aber andererseits verstärkt sich das Gefühl eines Bruchs mit der Realität, um etwas zu erfahren muss man sich mit Leuten treffen und vor die Türe gehen, die Nachrichten ploppen nicht mehr aufs Smartphonedisplay.

In der Woche danach verbreiteten sich „offline“ Aufrufe zu „totalem zivilen Ungehorsam“ und ein Generalstreik legte am 9. und 10. Juni den gesamten Sudan lahm, fast alle Geschäfte blieben geschlossen, genauso wie Flughäfen und Banken. Obwohl das Militär Hunderte Streikende verhaftetet und mindestens 4 tötete, beteiligten sich Millionen an dem Generalstreik. Viele wichtigen Straßen waren verbarrikadiert, obwohl das Militär die Barrikaden mit scharfer Munition und Tränengas zu räumen versuchte.

Die ersten großen landesweiten Proteste die nach dem Massaker in dem Protestcamp publik wurden, fanden am 1. Juli statt. Zehntausende Menschen strömten im ganzen Sudan auf die Straßen, erneut wurden acht erschossen und Hunderte verletzt.Während davor hauptsächlich die „sozialen“ Medien zur Mobilisierung genutzt wurden, wurdenaufgrund des gekappten Internets die Aufrufe nun über Nachbarschaftsnetzwerke und Freundesnetzte verbreitet. Das kann auch zu einer Stärkung der Bewegung führen. Anstatt bloß Informationen anonym im Internet zu „teilen“, ist es jetzt nötig bei dem Nachbarn zu klingeln oder die Cousine in der anderen Stadt anzurufen. Und das kann die echte Stärke einer Bewegung ausmachen: Ein Netz bestehend aus direkten Beziehungen zwischen Individuen, das nicht zusammenfällt, sobald das Internet abgeschaltet wird oder es zu einem Repressionsschlag kommt. Außerdem fällt es dem Staat so viel schwieriger die Bewegung zu überwachen und zu kontrollieren. Solange alle Kommunikation und Diskussion online stattfindet, kann der Staat schön mitlesen und die Meinung auch versuchen zu beeinflussen. Wenn aber die Kommunikation direkt unter Freunden, Arbeitskolleginnen oder Nachbarn stattfindet, ist das viel schwieriger und diese Beziehungen können gleichzeitig die Basis für den Kampf für eine andere Welt sein.

Da das Internet heutzutage alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt, ist es kein Wunder, dass es auch in vielen der letzten Aufstände weltweit eine entscheidende Rolle gespielt hat und das auch in Zukunft tun wird. Da wir jedoch für eine ganz andere Welt ohne jede Herrschaft kämpfen, ist es notwendig das Internet und die Technologie als das zu erkennen was es ist: Ein essentieller Pfeiler der Herrschaft und untrennbar mit dieser verbunden. Wenn wir somit die heutige Wirtschaftsordnung lahmlegen und zerstören wollen, sollten wir von uns aus anfangen das technologische Netz zu sabotieren und uns fernab der „sozialen“ Medien zu vernetzen.

Am 5. Juli verkündete dann der militärische Übergangsrat, dass sie mit dem Bündnis aus Oppositionsgruppen zu einer Übereinkunft gekommen sind: Eine knapp dreijährige Übergangsperiode bis zu den ersten Wahlen und eine vorläufige Regierung bestehend aus Militärs und Oppositionellen.

Auch wenn es im Endeffekt unwichtig ist, wer das Land in Zukunft weiter ausplündert – eine Militärjunta in Form einer Diktatur oder multinationale Unternehmen unter demokratischer Herrschaft – zeigt es die Taktik der Mächtigen. Es geht darum Veränderungen in der Machtstruktur möglichst lange herauszuzögern und den Preis für Zugeständnisse durch Hunderte Tote in die Höhe treiben um dann die minimalsten Forderungen der Bewegung zu erfüllen. Dadurch hoffen sie, die Bewegung in jene die sich damit zufrieden geben und jene die mehr wollen zu spalten und dadurch zu schwächen.

Ob die Rechnung aufgeht wird sich zeigen. Am 13. Juli demonstrierten erneut Zehntausende im ganzen Land und forderten Gerechtigkeit für ihre Toten.

Es bleibt die Frage was diese Informationen bewirken. Wir spüren eine Verbundenheit mit dem Aufbegehren der Menschen im Sudan, den Drang nach Freiheit können auch wir fühlen. Und dabei geht es nicht an erster Stelle um die individuellen Motivationen, welche die Menschen zur Rebellion ermutigt. Diese sind von hier aus zum Einen schwer zu erfahren und andererseits sind die Gründe zur Revolte so individuell und unterschiedlich wie die teilnehmenden Menschen es sind. Wir erkennen uns aber in der Rebellion gegen die Macht und in der Solidarität unter den Aufständischen wieder, in dem Angriff auf Regierungsgebäude und in dem Zusammenhalten angesichts brutaler Repression, in dem unstillbarem Drang nach Freiheit, der Menschen dazu motiviert, trotz hunderten von Toten und tausenden von Verhafteter und Verwundeten weiter zu kämpfen.

Es gibt sie nämlich auch: die Nachrichten die das Herz erwärmen und einen motivieren. Manchmal müssen wir vielleicht nur kurz innehalten und uns bewusst machen, dass jede Revolte, jede Veränderung mit der Motivation einer jeden einzelnen beginnt.