Wnn die ganze Welt krank ist…

weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt gesund sein will…

In dieser Gesellschaft werden bestimmte Gefühle des Leidens, wie anhaltende Depressionen, innere Unzufriedenheit, Leere und Abstumpfung zu etwas Alltäglichem. Da diese Gefühle für viele Menschen nicht nur etwas einmaliges und vorübergehendes darstellen, sondern etwas permanentes – werden sie relativ. Da diese Phänomene bei so vielen unterschiedlichen Menschen zu Tage treten – und nicht einfach wieder verschwinden – wird das Leid zu etwas normalem, vielleicht gar ohne Grund und Ursache, mit dem man sich arrangieren und das man therapieren kann. Oder man verdrängt es, versucht sich darüber hinweg zu täuschen und kann diese Gefühle so womöglich unterdrücken.

Wir müssen funktionieren, weiterhin arbeiten, betriebsfähig bleiben, durchhalten, die Zähne zusammen beißen – das ist es, was zählt. Und wenn es mal einen Betriebsunfall gibt und sich ein arbeitendes Rädchen in der Maschinerie nicht mehr wohl fühlt, gibt es immer einen Ausweg aus der Krise, aus Krankheit, Burnout, Depression und sonst was, denn schließlich sind wir ja alle mal krank. Uns allen geht’s ja mal nicht so gut, Hauptsache man findet damit einen Umgang, findet eine Möglichkeit, um all den Druck und Stress zu kompensieren, egal ob im Fintess-Studio, in der Kur, auf der Party oder im Erlebnisurlaub. In der ständigen Krisenbewältigung, gefangen zwischen Arbeit, Stress und Freizeitkommerz, lernt jeder einen Umgang mit der eigenen emotionalen Verkrüppelung zu finden… die Kirche vertröstet uns mit dem auf uns wartenden Paradies und bietet uns eine Glaubensgemeinschaft und traditionelle Werte und Riten, die uns ein bisschen Halt geben. Und noch viel moderner ist der spirituelle Trend, der in den ganzen Esoterik und Meditations-Yoga oder Zen-Buddhismus-Flashs seinen Ausdruck findet und der uns weiß machen will, dass man ohnehin unter jeglichen Umständen, egal in welcher Lebenssituation, glücklich sein kann. Alles nur eine Frage der Übung… aber glückliche Arbeitssklaven, ist es das, was wir sein wollen? Haben wir wirklich keine größeren Ansprüche an das Leben, an unser Leben? Alles als gegeben annehmen, alles akzeptieren, immer auf der Suche nach der eigenen Mitte, immer kontrolliert und selbst diszipliniert, immer in der Reihe… bis das permanente Kranksein, das ständige Leid und die Frustration, der ganze Knast aus Lohnarbeit und Kleinfamilie, das ganze Ablenken und künstliche Aufheitern, ja diese ganze nach Tod riechende Gesellschaft, normal und lebendig erscheint.

Ich denke, dass der Mensch nicht nur bestimmte Grundbedürfnisse hat, zu denen auch lebhafte soziale Beziehungen und emotionalen Bindungen gehören, sondern auch bestimmte grundlegende Bedürfnisse danach seine Umwelt und die Gesellschaft zu gestalten und kreativ tätig zu sein. Diese Bedürfnisse sind individuell und ich denke, dass diese Bedürfnisse durchaus sehr leidenschaftlicher Natur sind, was bedeutet, dass sie die Möglichkeit und die notwendige Freiheit antreffen müssen, um sich realisieren zu können. Unter gestalterischen Tätigkeiten verstehen wir heutzutage fast ausschließlich (Kunst-)Handwerke oder diverse Wissenschafts-, IT- oder oder Hobby-Tätigkeiten. Aber das Bedürfnis die Sachen um uns herum, wie die Stadt, oder die Struktur und die Rollen in dieser Gesellschaft zu verändern und zu gestalten, können wir höchstens in entfremdeten und spezialisierten Tätigkeiten wie denen von Politiker, Bürokraten oder innerhalb von kruden Vereinen und Organisationen kanalisieren. Was diese kreativen Bedürfnisse bei jedem selbst sind, muss jeder für sich selbst entdecken, allerdings denke ich, dass wir im hier und jetzt gar nicht fähig sind, unser ganzes Maß an kreativen Leidenschaften zu entfesseln, da das uns umgebende soziale Gefängnis von Anfang an die Vorstellungskraft darüber raubt, was alles möglich ist, wenn wir erst einmal in Bewegung geraten. Womöglich rührt viel emotionales Elend in dieser Gesellschaft eben davon, dass diese Bedürfnisse nach Kreation schlicht und einfach unbefriedigt sind.

Allerdings denke ich, dass diese Leidenschaften in uns nicht nur eine „positive“ gestalterische Seite haben, sondern auch eine negierende, eine verneinende, die das ablehnt, was uns von der Erfüllung unserer Wünsche abhält und welche sich impulsiv gegen das wehren will, was sich uns aufdrängt, sich über uns erhebt, uns unterdrückt, unterwirft und weh tut. Das heißt nicht nur sich zu wehren und zu verteidigen, sondern auch das zu zerstören, was uns die Freiheit nimmt unsere Bedürfnisse und Vorstellungen zu verwirklichen. Auch diesen leidenschaftlichen Impuls in sich selbst zu unterdrücken, kann eine Ursache für inneres Leid sein.

Doch die Demokratie lehrt uns tagtäglich, dass das in die Tat Umsetzen dieser „bösen“ Leidenschaften in der Regel eins ist: Verrückt, krankhaft, irrational. Allein schon das Empfinden von feindseligen, hasserfüllten Gefühlen ist krankhaft, ja, geisteskrank, denn schließlich… gibt es ja keine tatsächlichen Gründe für das Leid, für den Hass, für die Feindschaft. Das Unrechtmäßig erklären von widerständigen, rebellischen Handlungen – gerade wenn diese alleine umgesetzt werden – findet hauptsächlich auf pseudo-medizinischer, wissenschaftlicher Ebene statt, um unhinterfragbar zu untermauern, dass es unlogisch ist, in Folge von selbst empfundenen Leid oder in Folge von Unterdrückung und empfundener Ungerechtigkeit offensiv zu handeln… ich frage mich aber, ob es denn keine logische Entscheidung sein kann, die alltäglichen kleinen Tyrannen zurückzuweisen und die eigenen Unterdrücker, ihre Institutionen und Strukturen anzugreifen? Man sagt uns, man würde dabei sein Leben, seine Freiheit riskieren… aber ist es nicht viel riskanter ein Leben zu durchleben, dass vielleicht gar nicht lebenswert ist? Indem wir nach dem Aufstehen allzu oft hoffen, dass die Woche so schnell wie möglich umgehen wird? In dem es keinen Raum zum atmen, keinen Platz zum denken und vor allem keine Freiheit, keine wirkliche Freiheit, für die Erkundung unserer Bedürfnisse, für das Entfesseln unserer Leidenschaften gibt?

Lassen wir uns nicht einreden, dass es normal ist, am Boden zu liegen, und krankhaft sei, aufstehen zu wollen. Nur wir selbst wissen, wer wir sind, was wir wollen und wer und was uns davon abhält, uns zu entfalten und unser Leben leidenschaftlich zu gestalten. Sehen wir es als Herausforderung das anzugreifen, was uns erklärt, wir seien klein und schwach, unfähig und unwissend. Kämpfen wir gegen unsere Unterdrückung und erfinden unsere eigene Sprache der Freude und Revolte, in welcher wir unsere Ideen und Gefühle, unsere Euphorie und Begeisterung entdecken können.

Beseitigen wir die Ursachen unseres Leidens und lassen unseren Leidenschaften freien Lauf.