Im Krieg, allesamt

Im Jahr 1997 brachte die Filmindustrie von Hollywood einen Film heraus, in dem die Planung eines aufsehenerregenden terroristischen Attentats in New York ausgemalt wurde, als Rache für den Tod der eigenen Lieben im Laufe eines der vielen, von den westlichen Regierungen geschürten Bürgerkriege (in diesem Fall dem von Bosnien-Herzegowina). Der Film war für die Kinokassen gemacht, nichts Besonderes, und er wäre ohne die Geschehnisse von September vier Jahre später schnell in der Vergessenheit versunken. Im Nachhinein verfehlte dieser Film es nicht, die Aufmerksamkeit Einiger auf sich zu ziehen. Nicht zufällig. Tatsächlich zeigte er eine Szene, in der der Attentäter deutlich die Gründe erklärte, die ihn angetrieben hatten – ihn, einen reifen und gebildeten Mann – eine solche Tat zu verüben. Und so sehr auch in den Mantel des Spektakels gehüllt, hatten diese Gründe nichts von einer Filmerfindung. Im Gegenteil, es war einfach zu erahnen, dass sie aus den Herzen von dutzenden und hunderttausenden von über die Welt verstreuten menschlichen Wesen aus Fleisch und Blut sprächen.

Ihr werdet gegenüber meiner Tat sagen: „klar, warum nicht? Sie sind ein Rudel Tiere. Sie massakrieren sich seit Jahrhunderten gegenseitig.“ Doch die Wahrheit ist… dass ich kein Monster bin. Ich bin ein menschliches Wesen genau wie ihr, ob es euch nun gefällt oder nicht. Jahre lang haben wir versucht zusammen zu leben, bis wir uns im Krieg wiedergefunden haben, allesamt. Einem Krieg, den unsere Führer gewollt haben. Aber wer hat die serbischen Streubomben geliefert, die kroatischen Panzer, die Munition der muslimischen Artillerie, die unsere Kinder töten? Es sind die westlichen Regierungen gewesen, die die Grenzen unseres Landes abgesteckt haben, manchmal mit Tinte, manchmal mit Blut. Dem Blut unseres Volkes. Und nun schickt ihr eure Friedenstruppen um ein weiteres Mal unser Schicksal umzuschreiben. Wir können diesen Frieden nicht akzeptieren, der nur Schmerz hinterlässt, jenen Schmerz, den auch die Friedensstifter erfahren müssen: ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Häuser, ihre Kirchen. Also, jetzt wisst ihr es, jetzt müsst ihr verstehen. Lasst uns unser eigenes Schicksal finden. Möge Gott Erbarmen mit uns allen haben.“

Aber Gott existiert nicht und hat deshalb Erbarmen mit niemandem. Die Friedensstifter wissen es zwar, aber, auch wenn sie so einige Informationen haben, verstehen sie nicht, können nicht verstehen, wollen nicht verstehen. Das, was ein Drehbuchautor mit der Vorstellungskraft erfasst hat, sehen Scharen von Politikern, Journalisten und einfachen Bürgern nicht einmal, wenn sie immer wieder mit der Schnauze darauf stoßen. Sonst würden sie sich heute, am Tag nach den Kriegsakten, die ein Blutbad in Paris verursacht haben, nicht so sehr damit abmühen sich zu fragen, wie es passieren konnte, wie es möglich war das gute alte und zivile Europa mit so viel Brutalität zu schänden. Vierzehn Jahre nach diesem 11 September haben die, die kommen, um uns den Krieg nach Hause zu tragen, nicht einmal mehr den Skrupel, sich gegen ein strategisches Ziel zu richten. Sie attackieren nicht zeitgleich Symbol-Strukturen der feindlichen Macht (wie es das Pentagon und das World Trade Center waren), noch nehmen sie sich ein Schlangennest vor (wie die Redaktion der blasphemischen Charlie Hebdo wahrgenommen wurde). Nein, sie schlachten jeden direkt ab, blindlings, indem sie in die Menge schießen. Vielleicht versuchen sie einen Präsidenten der Republik ins Visier zu nehmen, allerdings dann, wenn er sich im Stadion inmitten von Fans befindet; sie feuern auf Kunden von Bars und Restaurants, die nur essen und trinken wollen; sie begehen ein wahres Blutbad an Zuschauern auf einem Konzert. Dies ist der Horror, der heute Viele erschüttert und bestürzt zurücklässt. „Es ist ein Angriff auf die Menschheit“[*] haben viele von ihnen gesagt. Nicht gegen eine feindliche Regierung, nicht gegen eine konkurrierende Ökonomie, nicht gegen einen rivalisierenden Gott, sondern gegen einfache menschliche Wesen, die nur ihren Alltag leben wollen.

Und es ist wahr, es ist ein Angriff auf die Menschheit. Bleibt nur zu fragen, von welcher Menschheit man spricht. Es ist die Menschheit*, die nach einem Tor jubelt, die Menschheit, die nach einer üppigen Mahlzeit rülpst, die Menschheit, die den ganzen Abend lang unbekümmert tanzt. Überhaupt nichts schlechtes, das wäre ja noch schöner! Doch diese Menschheit , die bezahlt und fordert, ihr Recht auf die Schlemmerei am Wochenende zu genießen, und die deshalb wegen der 129 Toten eines Freitag Abend in Paris erschreckt, ist dieselbe Menschheit, die schnaubt und sich langweilt, wenn jemand sie daran erinnert, dass der Krieg in Syrien in vier Jahren 300.000 Tote verursacht hat (das sind ca. 200 am Tag, und zwar jeden Tag) oder das die Toten im Irak seit Anfang der Feindseligkeiten auf 500.000 geschätzt werden (das sind weitere 100 am Tag, jeden Tag). Es ist dieselbe Menschheit, die das am Vortag von den gleichen Gottesbesessenen verübte Massaker in Beirut kaum bemerkt hat. Es ist dieselbe Menschheit, die am vergangenen dritten Oktober das Bombardement eines afghanischen Krankenhauses von Seiten der nordamerikanischen Luftwaffe zuerst missbilligt und es dann vergessen hat, sobald die Stars-and-Stripes-Regierung ihre Entschuldigungen präsentiert hat. Zu der Zeit haben die vom Geruch des Blutes erregten Journalisten nicht gegen die Christen-Bastarde gewettert; die Schöngeister haben keine Mahnwachen organisiert, keine Kerzen auf den Plätzen, keine Schriftzüge „Je suis Kunduz“ überall.

Die Menschheit von der man spricht ist jene zivile, gebildet, tolerant, oder besser gesagt jene, die in einer mehr oder weniger laizistischen, kapitalistischen Gesellschaft lebt. Wer in einer fundamentalistisch-theokratischen Gesellschaft lebt, ist kein Teil der Menschheit, er ist nur ein Monster. Weil es Monster sein müssen, die auf so eine Weise hunderte unschuldige Personen grausam ermorden. Die zivilen Wesen, die die Menschheit darstellen, drücken, wenn sie wahllose Massaker verüben wollen, einen Knopf. Monströs ist es. sich die Hände mit Blut zu beschmutzen, zivil, Massaker durch von Maschinen abgeworfene Sprengkörper zu verüben. Monströs ist es, freiwillig mit zwanzig Jahren in den den Tod zu gehen, zivil, freiwillig bis achtzig der Agonie zu gehorchen. Monströs ist es, auf Befehl religiöser Führer auf französische Passanten zu schießen, zivil, auf Befehl politischer Führer auf arme brasilianische Kinder zu schießen (es war die UNO selbst, die vor nur einem Monat die „erhöhte Zahl der summarischen Exekutionen an Kindern“ von Seiten der Polizei anklagte, aber spricht davon jemand?) Monströs ist es, den eigenen Feind abzuschlachten, zivil, ihn aus der Distanz zu töten oder ihn fürs ganze Leben in vier Wänden einzuschließen. Monströs ist es, zu glauben, dass 72 Jungfrauen im Paradies auf den Märtyrer des Krieges warten, zivil, zu glauben, dass die Rente im Alter auf den Märtyrer der Arbeit wartet (der vielleicht nicht zögert an Gottes Sohn zu glauben, der Wunder vollbringt und von einer Jungfrau geboren worden ist). Monströs ist es, zu fordern dass die Frau dem Mann unterworfen ist und herumläuft, ohne ein Stückchen Haut zu zeigen, zivil ist, zu begehren, dass sie unterworfen ist und dass sie so entkleidet wie möglich herumlaufen kann. Monströs ist es, die Religion der Wüste zu beten, zivil, die Religion des Geldbeutels zu beten. Monströs ist es, sich mit der Kriegsplünderung zu bereichern, zivil, sich mit dem Handel von Rüstung zu bereichern. Monströs ist der islamische Staat, der sich zu Kriegsakten gegen diejenigen bekennt, die lachen und sich amüsieren, zivil ist der demokratische Staat, der Kriegsaktionen gegen die, die weinen und leiden rechtfertigt.

Da, das ist die heute so entgeisterte Menschheit. Die Menschheit, die sich auf Anordnung entrüstet und betroffen ist, für die die anderswo und an anderen verübten Akte des Terrorismus gerecht und notwendig sind, während die hier zum eigenen Schaden begangenen sinnlos und grausam sind. Eine Menschheit, für die die Massaker enden, sobald die Fernsehnachrichten enden. Nur, dass in Zeiten des Krieges, wie denen, die wir durchmachen, die Massaker nicht enden. Für diejenigen, die es noch nicht gemerkt haben sollten, sie enden nicht mehr. Wenn die Soldaten des Isis vergangenen zehnten Oktober in Ankara hundert Tote verursachen konnten, warum sollten sie nicht einen Monat später ein paar mehr in Paris verursachen können? Vielleicht weil die Ersten bereit waren, die Waffen gegen den Kalifat zu benutzen, während Zweiten sich darauf beschränkten, sie aus der Distanz anzufeuern? Oder weil die islamistische Mörderbande zutiefst dankbar gegenüber jenen Regierungen sein müssten, die sie weit weniger bekämpfen, als sie verkünden und als sie könnten? Nicht nur bleibt die Haupteinnahmequelle des ISIS, bei der es sich um recht rentable Ölbohrgruben handelt, von den Angriffen „gegen den Terrorismus“ ausgeschlossen, sondern so, wie im März 1991 die, die mit dem Klang von Bomben die Demokratie in den Irak exportierten, dem Tyrannen Saddam Hussein erlaubten, den im Land ausgebrochenen Aufstand im Blut zu ersticken (einer Repression, die 750.000 Tote verursacht hat), hat man heute keinen Finger gerührt um zu verhindern, dass Assad den syrischen Aufstand erstickt und tut man alles, um die Selbstbestimmung der Kurden in Rojava zu verhindern.

Setzen wir der Empörung und dem Staunen ein Ende. Schluss mit den Heucheleien. Wir befinden uns im Krieg, allesamt. Einem Krieg, den unsere Führer gewollt haben. Wer hat die Phosphorbomben konstruiert, die Falluja niedergebrannt haben, wer hat die Piloten ausgebildet, die Gaza bombardiert haben, wer hat die Geheimdienste mit Informationstechnologien versorgt, die in Damaskus gefoltert haben? Es sind die Regierungen gewesen und die Multinationalen. Demokratisch gewählte Regierungen, zivil arbeitende Firmen. Hier, bei uns. Man weiß es aber man versteht es nicht völlig. Das ist es also, warum es kein Erbarmen gibt, nicht mal für uns selbst (uns, die großen Revolutionäre, die gern alles auf den Kopf stellen würden, mit dem ganzen Bestehenden Krieg führen würden, die aber nicht mehr in der Lage sind, jemanden zu Tode zu hassen, nicht mal unseren schlimmsten Feind). Das ist es also, warum es jetzt nur noch Platz für den Terrorismus gibt. Nach langen Jahrzehnten von Bewusstseinsvernebelung, von Intelligenzminderung, von Betäubung der Sensibilität und von Muskellähmung haben die Bürgerkriege schöne Tage vor sich. Die Freiheit und die Revolution dagegen viel weniger.

Und jetzt ist es einfach vorauszusehen was passieren wird. Gegen die eiserne Hand der Scharia die eiserne Hand des Zivil- und Strafgesetzbuches. Notstand, Sondergesetze, größere Kontrolle, weniger Freiheit für alle. Gegen das Risiko, durch islamische Hand zu sterben, die Sicherheit, durch demokratische Hand dahinzuvegetieren. Und Repressalien werden offensichtlich neue Repressalien nähren, in einem endlosen Teufelskreis. Mit der reaktionären Meute, die dazu aufwiegeln wird, die Ausländer per se zu hassen und dem progressistischen Pack, das dazu einladen wird, die Ausländer per se zu lieben. Und diejenigen, die keine Position innerhalb dieser Lager zu beziehen haben, die um sich herum kein „wir“ sehen, mit dem sie sich identifizieren, die diesen schwachsinnigen und terroristischen Krieg verweigern wollen, weil sie einen anderen Krieg – gegen jeden Gott, gegen jeden Staat – kämpfen wollen, finden sich immer mehr umstellt und überwacht wieder.

Aber nur wir können Erbarmen mit uns haben. Ein tiefer Atemzug und wir geben jede Verzweiflung und Rührseligkeit auf. Tränen machen die Augen blinder als Blut. Allem Anschein zum Trotz werden wir nie komplett machtlos im Versuch sein, Unordnung, Gotteslästerung und Subversion zu verbreiten.

*das Italienische umanità bedeutet sowohl Menschheit als auch mit Menschlichkeit [Anm. d. Ü.]