Eine Leitkultur namens Rassismus

Innerhalb eines knappen Jahres hat die öffentliche Meinung über die sogenannte „Flüchtlingskrise“ eine Kehrtwende vollzogen: Von einer sich selbst zelebrierenden und das deutsche Selbstbewusstsein stärkenden, angeblich offenen „Willkommenskultur“, die diejenigen Flüchtlinge und Migranten jubelnd empfängt, die das Glück und das Geld hatten einen der etlichen illegalen und beschwerlichen Wege nach Europa zu bestreiten, hin zu einer Politik, die Gefühle der Angst und Überforderung schürt und sich zu Nutzen macht, um den Staat und seine Herrschaft zu stärken. Jedoch sind die nun verabschiedeten Gesetzesverschärfungen und staatlichen Kontrollmanöver keine neue Masche, sondern nur eine intensivierte Abschottung und Verwaltung von Menschenmassen auf internationaler Ebene, die zuvor ebenso existierte. Die „Willkommenskultur“ war und ist schon immer eine Illusion gewesen, die durch den kurzzeitigen Eindruck der offenen Grenzen entstand. Ab dem Moment, in dem die Flüchtlinge von gestern, die Menschen ohne Identität und Papiere von heute sind, und die Armen von heute, die Flüchtlinge von morgen werden – und Migration somit unausweichlich und unkontrollierbar wird – ist die Antwort des Staates nie gastfreundlich, sondern stets repressiv. Der Schrei nach Kontrolle und Regulierung, nach geschlossenen Grenzen und lückenloser Registrierung entstand unter dem Eindruck eines wachsenden deutschen Nationalismus und Rassismus, und so macht sich der Staat eben diesen Rassismus wieder einmal zum Werkzeug, indem nicht die Gründe dafür, dass Millionen Menschen fliehen und Zehntausende auf der Flucht sterben, kritisch beäugt werden, sondern allein die Tatsache, dass diese Menschen eben hier her wollen und womöglich kommen, um zu bleiben. Nicht der Tod der fliehenden Menschen und die missliche Lage in Lagern und Abschiebezellen erregt die Gemüter, sondern nur die Tatsache, dass sie hierher kommen um zu (über-)leben. Innerhalb dieses angespannten gesellschaftlichen Klimas, läuft die Stimmungsmaschinerie der Herrschenden auf Hochtouren: Plötzlich ist jeder Mensch aus Nordafrika ein potentieller Grabscher und Vergewaltiger und jeder Flüchtling aus dem nahen Osten ein potentieller Islamist. Sexismus und Männerhorden, die erniedrigend mit Frauen umgehen, erscheinen wie ein neues Phänomen, dass zu „uns herüberschwappt“. Im nächsten Atemzug wird nach starken Männern und Polizisten, einem starken Staat und mehr Überwachung gerufen, die „unsere schutz- und hilflosen“ Frauen bewachen und verteidigen sollen. Geschlechterrollen, in denen Frauen stets als hilflose Opfer von Gewalt und Männer stets als die potenten und kräftigen Machthaber und Besitzer des Gewaltmonopols gesehen werden, sind hier und dort der Grund dafür, dass Männer denken, über Frauen und ihre Selbstbestimmung verfügen zu können, Frauen permanent als Sexualobjekte betrachten und ihnen jeglichen Anspruch auf gewalttätige Verteidigung, auf Rache, auf körperliche und individuelle Stärke und Durchsetzungskraft absprechen. Das Hinterfragen dieser sozialen (Geschlechter-)Rollen samt ihrer Bilder von (männlichen) Verteidigern und Beschützern und unfähigen (weiblichen) Opfern wird zu Gunsten einer Delegation von Macht und Zuspruch an das Gewaltmonopol der staatlichen HERRschaft ausgeblendet. An den sozialen Verhältnissen und Rollenbildern, die tagtäglich solche Erniedrigungen und Entwürdigungen produzieren, und vor allem an der Ohnmacht der Opfer, soll nicht gerüttelt werden, denn das Erschreckende und Überraschende ist ja schließlich nicht, dass so etwas passiert, sondern dass es vor den Nasen Aller, auf der Straße, passiert, an öffentlichen Orten, und nicht schön versteckt und diskret im Hotel oder Sekretariat, in der Kirche oder im Kloster, in der Arztpraxis oder am Arbeitsplatz, in der Küche oder dem Schlafzimmer. „Die Flüchtlinge“ werden gemeinhin als Kollektiv betrachtet, als namenlose Masse Gleicher unter Gleichen, ohne Individualität und Differenzen. Und um diese namenlose Masse „Fremder“ nun besser zu verwalten, mit ihnen Politik zu machen, sie zu integrieren oder abzuschieben, vollziehen die Herrschenden folgende Maßnahmen:

  • Beschleunigung: Alles soll ratzfatz gehen, vor allem diejenigen, die aus „sicheren Herkunftsländern“ (deren Liste immer länger wird) kommen, falsche oder gar keine Identität angeben, schon mal da waren, oder woanders bereits Asyl beantragt hatten, also die ganzen kleinen Lücken, die die Bürokratie noch im letzten Jahr zuließ (angeblich waren vorübergehend 1/3 der Antragssteller von Asyl unauffindbar), werden fix abgeschoben. Um sie aufzuspüren, werden die Grenzen mehr und mehr ins Innere verlagert (Bahnhöfe, Autobahnen, Häfen, etc., eigentlich ganze Städte), und dazu Lager bzw. „zentrale Aufnahmeeinrichtungen“ eingerichtet, in denen alles konzentriert werden soll, was sich laut biometrischer Identitätskontrolle nicht ohne Erlaubnis bewegen darf. Und, nebenbei, dass du hier bist, heißt noch lange nicht, dass deine Familie kommen darf!

  • Vorbeugende Selektion: Dass auch die restlichen Staaten Europas ihre Grenzen militarisieren und momentan alle ankommenden Flüchtlinge in Griechenland feststecken, hat Nebeneffekte: Nur Leute aus Kriegsgebieten (Syrien und Irak) haben die Möglichkeit Asyl zu beantragen und das im Grundgesetz festgeschriebene Grundrecht auf Asyl, wird mal wieder, wie in den 90ern, unter rassistischem Druck außer Kraft gesetzt. Was das heißt, zeigte sich vor kurzem an der griechisch-mazedonischen Grenze, wo tausende Bullen und Soldaten Menschen daran hinderten und hindern, die Grenze zu überqueren. Das Kriterium nach dem sie die Menschen passieren ließen, war das wahnsinnige Glück aus einem Kriegsgebiet lebend geflohen zu sein. Die Willkommenskultur von heute bedeutet, nur die mit dem richtigen Pass willkommen zu heißen und ein Stück Papier über Leben und Tod entscheiden zu lassen.

  • Auslagerung: Nach dem Abschluss des Milliarden-Deals mit der Türkei zur Abschiebung („Rückführung“) von tausenden in Griechenland gestrandeten Flüchtlingen, beginnen schon die ersten mit Geflüchteten gefüllten Frontex-Boote in Richtung Türkei zu schippern, wo Armut und Elend warten. Die Riesenknäste, die „Hotspots“ geschimpft werden, und in der Türkei, in Griechenland und dem Libanon entstehen und teils ein bis zwei Millionen Menschen einsperren können, werden in Zukunft den menschlichen Abfall vor den Toren Europas präventiv entsorgen. Aus den Augen aus dem Sinn! Wenn da jeder kommen würde, da würde die Ausbeutung des globalen Südens ja gar nicht mehr funktionieren… aber wer eine ausgebildete Fachkraft ist, der kann seine Bewerbung bei der Botschaft abgeben.

  • Massenabschiebung: Die Balkan-Abschiebelager (siehe Fernweh Nr.17) in Bamberg und Manching sind ein Erfolgskonzept, denn da jede Woche eine Sammelabschiebung in Richtung Balkan stattfindet, funktioniert das Prinzip der Abschreckung und viel weniger „Balkan-Flüchtlinge“ kommen hierher. Ein Grund, die jeweils 1500 Betten großen Lager, deren Zustand sogar von Menschenrechtsorganisationen kritisiert werden, zu schließen? Ach was, man könnte ihre Kapazität auch auf 4500 erhöhen und andere Flüchtlinge aus anderen sicheren Herkunftsländern einsperren (bspw. aus dem Kriegsland Ukraine oder Tunesien, Marokko, Algerien, wo man bspw. für Homosexualität in den Knast muss) und innerhalb von wenigen Wochen abschieben. Dank des neuen Asylpakets können medizinische Gründe Abschiebungen ja nun auch nicht mehr verhindern.

  • Kontrolle: Wer die (wieder) eingeführte Residenzpflicht zwei mal missachtet und dabei erwischt wird, also mal was anderes sehen will als sein Lager im Dreckskaff am Ende der Welt, kriegt kein Asyl. Das ausgezahlte Geld wird Schritt für Schritt weniger und Geld kriegt man eh nur, wenn man am vorgeschriebenen Ort ist, aber bald wird das vielleicht auch schon in Wert- und Essensmarken verwandelt. In Altöttingen wird bereits die „Refugee-Card“ eingeführt, die räumlich begrenzt nur spezielle Einkäufe zulässt und deren Guthaben nach Monatsende verfällt. Nicht, dass du den Daheimgebliebenen etwas zusendest!

  • Freiwillige Rückreise: Mit einer Strategie der Langeweile, des jahrelangen Wartens und des Aushungerns sollen Flüchtlinge zur „freiwilligen“ Rückreise gedrängt werden. Dies wird vermehrt bei Menschen aus Afghanistan probiert. Darüber hinaus wird unveröffentlichten EU-Papieren zur Folge die Abschiebung von 80.000 Afghanen geplant. Immerhin engagiert sich Deutschland schon so mit seinem Bundeswehreinsatz in diesem Land, dass man die Leute nicht auch noch hier aufnehmen könne. Zwischen Krieg, ökonomischer „Entwicklungshilfe“ und Flucht sieht niemand einen Zusammenhang, und dass es in Afghanistan noch nie so viele zivile Todesopfer wie letztes Jahr gab, interessiert anscheinend auch nicht…

  • Leitkultur: Das frisch gebackene bundesdeutsche Integrationsgesetz nach bayerischem Vorbild verfolgt den Grundsatz „fordern und fördern“. Dass unter Fordern vor allem die Achtung der Leitkultur, d.h. von Werten und Gesetzen gemeint ist, und dass die Missachtung von den Autoritäten, die von diesen Werten und Gesetzen profitieren, harsch bestraft wird, liegt auf der Hand. Zur Vermeidung sozialer Brennpunkte sollen Wohnsitze vorbestimmt oder zum Tadel Geld gekürzt werden. Zudem soll bald der Kauf von SIM-Karten nur noch mit Ausweispapieren möglich sein – also unmöglich für Menschen ohne Papiere oder festen Wohnsitz. Leitkultur auf deutsch heißt, deine „Freiheit muss weh tun“ und eben diese ist sowieso nur eine Leihgabe.

  • Starker Staat: Wenn die Bürger um ihre Sicherheit fürchten, um die Sicherheit „ihrer Frauen“, ihrer Arbeitsplätze und ihrer Kultur, dann mag das für einen Moment lang ein Skandalthema sein, aber im nächsten Moment wird diese Beschützer-Aufgabe an den Staat delegiert, der die Polizei nicht nur aufrüstet, sondern auch tausende neue Polizisten sowie Soldaten einstellt. Die sich formierenden Bürgerwehren, die Nachfrage nach Waffen zum Selbstschutz und auch die hunderten Brandstiftungen an Flüchtlingsheimen sind Momentaufnahmen, die zwar tödliche Folgen haben, aber im darauf folgenden Augenblick ihre institutionalisierte Form annehmen. Der Rassist legt so lange selbst Hand an, bis der institutionelle Rassismus noch deutlicher zu Tage tritt und staatliche Kanäle sein Handeln überflüssig machen. Der Staat macht sich den gesellschaftlichen Rassismus zu Nutzen um nach rechts zu rücken und autoritärer und totalitärer zu werden. Die von Verfassungsschutz und Geheimdiensten gesponsorten und durchsetzten Nazi-Strukturen sind ein Mittel, um diesen Weg zu beschleunigen. Was womöglich blüht, ist eine Gesellschaft, in der die Mechanismen zur Integration und Auslese von Menschen rasant perfektioniert werden und jegliches Fehlverhalten bemerkt, registriert und bestraft wird. Eine Spitzel- und Bullengesellschaft, die zu jeder Zeit tausende Lager bereit hat um Menschen einzusperren und zu selektieren. Die Uniformen und Soldaten machen sich überall breit. Beispielsweise dürfen bereits jetzt pensionierte Polizeibeamte umsonst mit dem öffentlichen Verkehr fahren, wenn sie ihre Uniform tragen und so für Ordnung sorgen. Währenddessen diskutieren die Herrschenden unverhohlen über mögliche para-polizeiliche Bundeswehreinsätze im Inneren…

  • Krieg: Der Krieg ist die Seele des Staates und diesen Krieg zur Erhaltung seiner Macht, des sogenannten sozialen Friedens, führt er in Syrien, in Afghanistan, in „Entwicklungsländern“, im Mittelmeer, an der Grenze und hier, direkt vor unseren Augen. Dieser Krieg richtet sich gegen alle, die ökonomischer Ausbeutung und staatlicher Kontrolle unterworfen werden sollen. Permanent kommt es dabei zu Brüchen, zu Kontrollverlusten und Revolten: Wenn Geflüchtete im französischen Calais oder griechischen Idomeni Grenzen stürmen und Zäune niederreißen, wenn hunderte Eingesperrte gemeinsam aus „Hotspots“ auf griechischen Inseln ausbrechen, wenn Menschen polizeiliche Identifizierung verweigern und untertauchen oder dort, wo Individuen alleine und gemeinsam den Krieg der Herrschenden mit offensiver Gegenwehr beantworten. An dem Punkt, an dem die Institutionen, die Arme des Staates, nach immer mehr Macht und Befugnissen lechzen und in jeden Aspekt des Lebens eindringen, müssen wir uns dem verweigern und ihren Uniformen und Regeln keinen Respekt zollen. Wenn die Gesellschaft in Menschen nur Staatsbürgerschaften und Gruppenzugehörigkeiten, mögliche Gefahren und potentielle Steuerzahler sieht, müssen wir uns darüber hinwegsetzen, Menschen von Angesicht zu Angesicht kennen lernen und so unsere Gemeinsamkeiten und Differenzen erforschen. Sich den Rassismus zum Feind zu nehmen heißt nicht nur seine hohlsten Verfechter auf der Straße zu sehen, sondern auch Angriffe gegen die staatlichen Institutionen und ihre Leitkultur vorzubereiten, die die rassistische Auslese in der Gesellschaft durchsetzen.

Für ein Leben fernab von Staaten und Grenzen, Papieren und Kriegen!